Thalia starrte mich an, während ich meine Stiefel aufschnürte. „Das ist nicht dein Ernst!"
„Wenn wir nichts tun, ertrinkt sie. Sie schafft es nicht allein. Da tut keiner." Jede Minute, die wir warteten, sogen sich ihre Kleider mehr mit Wasser voll. Die Kälte und die Strömung würden ihre Kräfte im Nu aufzehren, bis sie sich nicht mehr festhalten konnte. Ich wusste, wovon ich sprach. Bei meiner ersten Reise in den Süden hatte ich ein Kind aus dem Fluss gezogen. Die Strafpredigt meines Vaters, weil ich ohne Erlaubnis reingesprungen und selbst fast ertrunken war, klingelte mir immer noch in den Ohren.
„Siehst du die Stelle da unten?" Ich öffnete die Spange meines Mantels und ließ ihn zu Boden fallen. „Da werde ich auf dem Rückweg hingetrieben. Haltet euch bereit, uns rauszuziehen." Wenn man erstmal im Fluss drin war, kam man ohne fremde Hilfe schwer wieder ans Ufer, dafür war die Böschung zu steil. Und ich hatte nicht die Muskeln eines ausgewachsenen Mannes.
Ich setzte mich an die Kante, die Hände hinter mir auf den glitschigen Fels gestemmt. Ein letztes Mal holte ich tief Luft. Dann schob ich die Beine nach unten, wappnete mich für den Schock und ließ mich ins Wasser sinken.
Die Kälte war erträglicher als erwartet. Beißend bis in die Knochen, aber nicht lähmend. Dafür war es schwieriger, den Kopf an der Oberfläche zu halten. Kaum war ich im Wasser, spürte ich schon die Kräfte des Flusses. Unterschiedlichste Strömungen, die an meinem Körper zerrten und ihn in ihre Richtung reißen wollten.
Ich stieß mich vom Felsen ab und nutzte den Anschub, um mich mit möglichst wenig Kraft zu einer Felsnadel in der Mitte des Weißwassers zu bringen, an der ich mich festhalten konnte. Gischt spritzte in meine Augen, trübte die Sicht. Am anderen Ufer wirbelten die blonden Strähnen der Hexe durchs Wasser. Sie schrie oder fuchtelte nicht mit den Armen, wie man erwarten könnte. Ertrinkende taten das seltener, als gedacht. Mit vor Anstrengung weißen Knöcheln klammerte sie sich in der Weide fest, während Thalia von der anderen Seite unverständliche Worte rief. Nur drei Meter, dann würde ich bei ihr sein.
Ein weiteres Mal Luftholen und ich tauchte unter. Eisiges Wasser rauschte an meinen Ohren vorbei. Als ich auftauchte, kribbelten meine Wangen vor Kälte und ich war hellwach.
Auf dieser Seite des Weißwassers war die Störmung weniger stark, dafür aber das Flussbett tiefer. Zum Glück hatte ich vom Wandern starke Beine, fast widerstandslos schwamm ich quer zur Fließrichtung und erreichte die Hexe schneller als erwartet. Äußerlich wirkte sie unverletzt, mittlerweile hing sie allerdings mehr in der Weide, als dass sie sich festhielt. Nur noch ihr Kopf schaute aus dem Wasser.
„Ich bin da", sagte ich und packte sie fest an der Schulter, „Ich habe Euch."
Ihre Augenlieder flackerten, als sie mich erkannte. Sie atmete mit einem ungesund klingenden Pfeifen und aus ihren Mundwinkeln flossen dünne Rinnsale von Wasser.
„Lasst los. Ich ziehe Euch jetzt zurück ans Ufer."
„Kann...nicht", keuchte sie, „meine Hände..."
Erst da sah ich es auch. Ihre Finger öffneten und schlossen sich ins Leere. Sie hatte die Weide längst losgelassen, trotzdem hingen ihre Hände nach wie vor an Ort und Stelle. Die Dornen ihrer Armfesseln hatten sich mit dem Weidengeflecht verhakt.
Verdammt. Heute kam auch wirklich alles zusammen.
Vorsichtig, mit zwei Fingern, versuchte ich die Dornen von den kleineren Zweigen der Weide zu trennen. Das hier war wie meine Haarknoten, nur in größer. Und lebensbedrohlicher. Die Dornen bewegten sich keinen Millimeter.
„Es. Muss. Doch-" Fluchend rüttelte ich an ihren Armen, erst behutsam, dann heftiger, mit zusammengebissenen Zähnen. Eine der Dornen splitterte unter meiner Hand, brach ab. Die Hexe stöhnte vor Schmerz und presste die Stirn in meine Schulter.
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Die Dornen der Götter
Fantasi„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...