Thalias Hand schnellte zum Schwertgriff, bei ihr wohl eine erlernte Reaktion.
Mittlerweile waren noch andere Stimmen zu hören. Wütende Rufe, ein Chor aus Beschimpfungen, der immer weiter anschwoll.
„Was ist das?", fragte ich leise.
Thalia zog die Stirn in Falten. „Kommt."
Ich heftete mich an ihre Fersen, als sie durch die Seitengasse hinaus auf den Tempelvorhof eilte. Wir mussten nicht lange suchen. Thalia hielt unter einem der Feigenbäume inne, die den Hof wie ein grünes Band umschlossen, so plötzlich, dass ich fast mit ihr zusammenstieß.
Vor uns hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Die meisten Gottesdienstbesucher waren schon gegangen, aber ein Rest stand noch in kleinen Grüppchen um das Hauptportal verteilt, darunter auch das Lehrerkollegium der Akademie. Ihre strahlend weißen Gewänder hoben sich deutlich vom sandfarbenen Gestein um uns herum ab. Auch sie beobachteten mit sichtlicher Verwirrung, was dort in der Mitte des Platzes geschah.
Eine junge Frau kniete im Staub. Sie musste jünger als ich sein, deutlich jünger, aber ihre langen Haare fielen in losen Strähnen zu Boden und verdeckten ihr Gesicht, sodass ich nicht sicher sein konnte. Auch ihre Kleider waren an manchen Stellen zerrissen. Selbst aus der Entfernung konnte ich sehen, dass sie zitterte. Von allen Seiten wurde mit Fingern auf sie gezeigt. Die kleine Menschentraube um sie herum schrie Anweisungen in die Mittagsruhe und durch das Stimmengewirr konnte ich ein Wort deutlich heraushören: „Hexe!"
Ein Zischen ging durch die Umstehenden, wie die Jagdlaute einer vielköpfigen Schlange.
Neben mir schloss Thalia die Augen. „Oh, Scheiße."
Immer mehr Leute versammelten sich im kühlen Schatten unter den Feigen. Verkäufer aus den umliegenden Läden, Mütter mit kleinen Kindern an der Hand und Körben voll von Feiertagsgebäck auf dem Kopf. Handwerker und Hafenarbeiter, neugierige Adelige in flatternder Wasserseide. Kaum vorstellbar, dass sie alle nur die Schreie gehört hatten. Oder konnten sie Angst wittern, wie eine Schlange ihre Beute?
Ich bekam nicht mit, wo es anfing, aber plötzlich hielten die Männer neben dem Mädchen Steine in den Händen. Erst einer, dann immer mehr.
Das Mädchen begann zu schluchzen. „Bitte, ich habe nichts getan!" Ihr Flehen hallte von den Hauswänden wider. Über uns wurden zu allen Seiten die großen Fensterläden geöffnet, die man tagsüber gegen Hitze und Sonne fest verschlossen hielt, aber nur einen Spalt breit. Dahinter, sicher im Schatten verborgen, lauschten die Anwohner.
In meinen Ohren pochte das Blut. Ohne es zu merken, hatte ich die Hände zu Fäusten geballt. „Ist das bei euch so üblich?" Es gelang mir nicht ganz, den Sarkasmus aus meiner Stimme zu verbannen. „Eine öffentliche Steinigung als Höhepunkt der Feierlichkeiten?"
„Mund halten, Nordländerin!" Thalia hatte die Lippen zusammengepresst. Täuschte ich mich, oder waren sie ein wenig fahl geworden? „Redet nicht von Dingen, die Ihr nicht versteht."
„Was gibt es da bitte zu verstehen?" So langsam aber sicher reichte es. Ich deutete auf den Platz. „Das ist ein Kind!"
Neben mir streckte sich gerade ein anderes Kind an der Hand seiner Mutter, um mit den Fingerspitzen eine Feige vom Baum zu fischen. Offensichtlich aus Langeweile. Das Drama auf dem Tempelvorhof schien es vollkommen kalt zu lassen. Was waren das für Menschen hier? Wie oft erlebten die solche Szenen, um sich dabei schon zu langweilen? Kaum zu glauben, dass sich Thisbe und das Eldra Tal im gleichen Land befanden. Ihre Grafenfamilie hätte so etwas niemals zugelassen.
„HALT!"
Ich sah auf.
Die Menge teilte sich, als eine weitere Gestalt die Szene betrat. Prinz Damian, gekleidet in blutrotem Samt. Die Sonne gleißte über das Silber seiner Uniform, nicht wenige Umstehende mussten sich geblendet die Hand vor die Augen halten, während er an ihnen vorbei auf das Mädchen am Boden zuschritt, hinter ihm ein Trupp Soldaten. Sofort versanken die Leute in erschrockene Knickse und Verbeugungen. Wäre die Situation nicht so ernst, hätte ich allein beim Anblick ihrer verdutzten Gesichter laut losgelacht. Auch in der Hauptstadt bekam man wohl nicht alle Tage den Kronprinzen zu Gesicht.
Eine der weiß gekleideten Lehrerinnen löste sich aus der Zuschauermenge, als wollte sie dem Prinzen nachgehen, aber ihre Kollegen fassten sie am Ärmel und zogen sie mit wehendem Schleier zurück. Ich erkannte sie. Es war die ältere Frau von meiner Audienz mit dem Prinzen.
„Was geht hier vor?" Prinz Damians Stimme war so laut, dass sie sogar das allgemeine Chaos übertönte. Er nickte zu dem Mädchen. „Was hat sie getan?"
Der Mann, der als einer der Ersten nach einem Stein gegriffen hatte, spuckte vor ihm in den Sand. „Es geht nicht darum, was sie getan hat, Hoheit. Sondern was sie ist."
Selbst auf die Distanz konnte ich erahnen, wie der Prinz angeekelt die Nase rümpfte.
„Ich bin nicht böse, Hoheit!", flehte das Mädchen und wandte ihm das tränenüberströmte Gesicht zu. „Ich schwöre bei Lux, ich-"
„Halt's Maul!" Der Mann packte sie im Nacken und drückte sie grob zurück in den Staub. „Wir hatten sie als Hilfe im Haus. Und heute Nacht ist unser neugeborener Sohn gestorben. Meine Frau hat gesehen, wie sie gestern einen bösen Zauber über seiner Wiege gesprochen hat. Die Nachbarin kann es bestätigen. Diese Hexe hat ihn umgebracht!"
„Natürlich." Thalia verdrehte die Augen. „Wenn es so einfach wäre, jemanden umzubringen, dann wärst wohl eher du tot, nicht dein Sohn", murmelte sie zu sich selbst.
„Hat Eure Frau Euch von dem Zauber erzählt bevor oder nachdem Euer Sohn verstorben war?", fragte Prinz Damian kühl.
„Was spielt das für eine Rolle?"
„Oh, eine entscheidende. Das muss doch selbst einem kognitiven Irrlicht wie Euch aufgehen. Oder glaubt Ihr, dem Richter genügt für ein Todesurteil das Zeugnis einer trauernden Mutter und ihrer Nachbarin?"
„Todesurteil?" Vor Wut lief der Mann ganz rot im Gesicht an. „Tötet sie, wo ihr sie findet. So steht es geschrieben!" Er fuchtelte mit seinem Stein herum, bedrohlich nah vor Damians Nase. „Die kleine Hexe stirbt jetzt, hier, durch meine Hand!"
„Nein", sagte Damian ruhig. „Die Zeiten haben sich geändert. Sie bekommt einen Prozess und einen Anwalt, wie jeder andere in diesem Land. So wird in Verlon über Schuld und Unschuld entschieden. Ich dulde keine Lynchjustiz."
„Der König-"
„Ich bin Prinz Damian, Sohn von König Charon und ich spreche mit seiner Autorität." Er verlieh seinen Worten einen bedrohlichen Unterton. „Wollt Ihr es besser wissen, als die Stimme Gottes auf Erden?"
Der Mann schloss den Mund.
„Das dachte ich mir." Mit einem grimmigen Lächeln wandte sich Prinz Damian zu seinen Wachen um. „Versorgt die Frau und bringt sie ins Gefängnis." Er nickte in Richtung des Mannes. „Und ihn auch. Wir werden sehen, wer von beiden die Wahrheit sagt."
Während sich die Menge allmählich zerstreute, drehte Thalia das Gesicht wieder in meine Richtung. Ihre Lippen waren weiß. „Besser Ihr verschwindet von hier. Trefft mich heute bei Sonnenuntergang, wie besprochen. Die Hexe sollte Thisbe so schnell es geht verlassen. Und wir auch."
Das musste sie mir nicht zweimal sagen.
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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...