Kapitel 22.2: Hinter dem Schleier

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Ich erwachte in einem bequemen Bett.

Zuerst dachte ich, wir seien wieder im Palast von Thisbe. Noch bevor ich die Augen aufschlug, spürte ich die Seide unter meinen Händen, hörte das Meer vor dem Fenster rauschen. Oder war es ein Wasserfall?

Dann aber blinzelte ich und fand mich in einem neuen Raum aus weißem Stein wieder. Es war warm und hell, zweifellos irgendwo im Süden. Neben meinem Bett saßen zwei Menschen und sahen mich an.

„Mera!" Mein Vater lächelte. Thalia tat es ihm gleich. „Endlich. Sie haben gesagt, du würdest heute aufwachen."

„Wo bin ich?", fragte ich mit rauer Stimme. Noch immer glühte meine Haut fiebrig, ich konnte es spüren.

„Im Tal hinter dem Wasserfall", antwortete Thalia. „Dem Sitz unserer Gemeinschaft. Es war immer schon durch mächtige Schutzzauber verborgen, deswegen hat es die Nemesis überdauert. Wir haben Wochen hier hier gebraucht. Durch den Wald und dann an der Westküste entlang mit dem Schiff in den Süden. Du warst den ganzen Weg über im Delirium, nur hin und wieder wach, um was zu trinken oder zu essen. Kannst du dich an gar nichts erinnern?"

Schwerfällig schüttelte ich den Kopf. Da waren nur Fragmente. Bilder, Gefühle. Behutsame Hände und nasse Tücher, die meine glühende Stirn kühlten. Schemen von Grün. Ein Vogelschwarm, der sich aus Baumkronen löste. Honigwasser in meiner Kehle. Ein schwankendes Bett, blauer Himmel, Möwenschreie und salzige Luft. Dutzende neugierige Augen, die mich musterten, als ich durch eine weiße Halle getragen wurde. Und immer wieder eine Frau. Ihr Gesicht, das sich über mich beugte. Ihre Stimme, die mir beruhigende Worte sagte. Sie saß oder lag neben mir, wann immer ich aufwachte. Ob auf einer Lichtung im Wald oder dem Deck eines Schiffs, während sich ein silberner Mond in den Wellen spiegelte.

„Kore", flüsterte ich. Thalia missverstand es für eine Frage.

„Sie ist die ganze Zeit nicht von deiner Seite gewichen. Keine Angst, wir wussten, was zu tun war. Dieses Fieber ist am Anfang vollkommen normal bei uns."

Uns.

Wenn es noch irgendeinen Zweifel daran gegeben hatte, dass ich Kores Tochter war, dann hatte meine Magie ihn restlos ausgeräumt. Die Berührung der Spina musste sie geweckt haben. Mein wahres Wesen. Ich schauderte, trotz Fieber.

„Also hatte ich Recht", krächzte ich. „Du bist eine Hexe."

Thalia zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Tut mir leid, was ich gesagt habe, vor dem alten Tempel. Aber ich habe Panik bekommen, als du mir auf die Schliche gekommen bist. Ich dachte, wenn du uns verrätst...Ich wusste ja nicht, dass du ihre Tochter bist. Oder dass unsere Hexe Kore ist. Als ich von Damian die Geschichte mit der Hexe im Steinsarg gehört hatte, wusste ich, dass da irgendwas im Gang war. Vielleicht eine Botschaft von Ananke. Deswegen bin ich im Auftrag meiner Mutter mit auf die Mission. Aber ich schwöre dir, ich hatte keine Ahnung von dir oder Kore."

„Deine Mutter? Die von der du gesagt hast, dass sie eine Anführerin ist?"

Thalia nickte. „Hypatia. Sie hat die Hexen im Süden siebzehn Jahre lang zusammengehalten, nach dem Verschwinden der Akolytin. Also Kore. Gott, das ist alles so kompliziert. Sie wollte dich übrigens sehen, sobald du aufwachst. Soll ich sie holen?"

„Nein! Bitte..." Ich schluckte. „Noch nicht...ich will sie jetzt nicht... wirklich nicht."

„Schon gut. Ist ja verständlich."

Ich wandte das Gesicht meinem Vater zu. „Warum?", fragte ich nur. „Warum Eporem?"

Er senkte den Blick. „Wir haben deinen Namen und dein Geschlecht im Geburtsregister der Krankenstation gefälscht, um Kores Spuren zu verwischen. Aber auch, damit keiner Verdacht schöpft, wenn wir ein Jahr später mit einem Mädchen namens Merope ins Eldra Tal zurückkehren. Deine Mutter und ich haben dich mitgenommen und eine Weile zurückgezogen im Wald gelebt. Offiziell bei ihren Verwandten in den Bergen. Während der Nemesis und dem ganzen Chaos ist es niemandem aufgefallen. Als wir zurückkehrten hatten wir dann ein Kind. Dich. Nicht ungewöhnlich für ein junges Ehepaar." Mein Vater zögerte. „Wir konnten es dir nicht sagen. Auch später nicht. Es war unser letztes Versprechen an Kore und diese Hexenverfolgung...wenn nur der Verdacht aufgekommen wäre, dass du magisches Blut in den Adern hast...Mera." Er beugte sich vor und nahm eine meiner glühenden Hände in seine. „Deine Mutter konnte keine Kinder bekommen. Du warst ihr größtes Geschenk. Und meines auch. Für mich spielt es keine Rolle. Du bist meine Tochter und du wirst es immer sein."

Die Dornen der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt