Mera
Ich beobachtete mit Interesse, wie die gesichtslose Frau vor mir von ihrem Schwert durchbohrt wurde. Ihre Gestalt war fein gearbeitet, angefangen bei den Falten ihres Gewands, bis hin zu ihrem zum Himmel geöffneten Handflächen. Gleiches galt für die monströse Schlange, die unter ihrem Körper begraben lag und im Todeskampf dem Betrachter ihre nadelspitzen Giftzähne und gespaltene Zunge zeigte. Das steinerne Schwert drang durch die Brust der Frau bis in den Hals der Schlange darunter.
„Merope", flüstere ich. Es war fast nur ein Hauchen.
Ich hatte nicht erwartet, so weit im Süden ein Bildnis zu ihren Ehren zu finden. Ja, ihr Gesicht war zerschlagen worden, wie bei allen Statuen, die irgendetwas mit den Hexen zu tun hatten. Aber immerhin existierte sie noch, selbst hier in der Hauptstadt. Und wenn es nur an der Wand einer vergessenen, schmutzigen Seitengasse war.
„Na, betet Ihr Eure Namensgeberin an?"
Ich wirbelte herum. Eine junge Frau mit dunkler Haut und glattem, schwarzen Haar stand an die Hauswand gegenüber gelehnt und entfernte mit einem Messer Dreck unter ihren Fingernägeln. Auch ohne die blaue Festtagsrobe über ihrer Lederrüstung hätte ich sie erkannt. Thalia, die Leibwächterin des Prinzen.
Das war nicht gut.
Was zur Hölle machte die hier? Hatte sie nicht das Königssöhnchen zu beschützen? So ein Festtag außerhalb der sicheren Palastmauern brachte sicher viele Gefahren mit sich. Meuchelmörder, Sonnenbrand, Steine in den goldenen Sandalen...
Gewohnheitsmäßig lag mir schon eine spitze Bemerkung auf der Zunge, aber ich verkniff sie mir gerade noch rechtzeitig. „Ihr habt mich erschreckt."
„Gut." Sie grinste, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkte. „Kein Ort, wo man sich sehen lassen sollte, Mera aus dem Norden."
Gott, wie lange beobachtete sie mich schon? „Ich habe nur ein Plätzchen im Schatten zum Ausruhen gesucht."
„In diesem stinkenden Loch?" Sie hob eine Braue.
„Besser Gestank und Dreck als mörderische Blicke." Ich hatte ja damit gerechnet, dass man mir im Süden nicht gerade den roten Teppich ausrollen würde. Aber dieses Ausmaß an Hass war doch überraschend gekommen. Allein auf dem Weg von meiner Unterkunft zum Tempel, hatten fünf Leute vor mir auf den Boden gespuckt. Was dachten die Südländer? Dass ich das Böse aus dem Arbor wie eine ansteckende Krankheit mit mir trug und in ihre Städte einschleppte? Vermutlich war ich selbst schuld. Ich hätte beim Betreten der Hauptstadt meinen grünen Umhang ablegen sollen. Mein Vater hatte es mir immer wieder eingeschärft.
„Ihr müsst den Aberglauben der einfachen Leute verzeihen", sagte Thalia seufzend. „Sie denken, wer zu lange Zeit im Arbor verbringt, wird selbst zur halben Hexe."
Ich zog die Brauen zusammen. „Der Wald ist keine Krankheit. Er ist alt und schön und schrecklich und-"
„-magisch?" Wieder grinste die Soldatin. Sie hatte gewonnen und genoss es. „Ich habe Euch nicht bei der Opferung im Tempel gesehen."
In meinem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit. Instinktiv maß ich im Kopf die Distanz zwischen mir und dem Ende der Gasse aus. Falls ich flüchten musste, wollte ich nicht unbedingt von ihrem Messer aufgespießt werden. Dummerweise war diese Gasse der perfekte Ort, um mich ungesehen loszuwerden. Hatte es sich der Prinz anders überlegt, was meinen Auftrag anging? „Wahrscheinlich habt Ihr den Kopf nicht weit genug nach hinten gedreht", sagte ich bemüht lässig. „Die Waldwacht sitzt nicht bei den Reichen und Schönen."
Tatsächlich war ich im Tempel gewesen. An meinem vorgeschrieben Platz, ganz hinten bei den Henkern und allen anderen Berufsgruppen, die unsere Gesellschaft brauchte, aber für ihre schmutzige Arbeit verachtete. Nur zum Opfern war ich nicht gegangen. Wie mein Vater hielt ich wenig davon, Gott einmal im Jahr einen festgesetzten Betrag an Gold zu opfern, um ihn zufrieden zu stellen. Wir brachten unsere eigenen Opfer. Gebete und gute Taten, wie es die Menschen im Norden seit Jahrhunderten getan hatten. Und wie so oft, wenn ich gerade frisch aus dem Arbor kam, war mir die Menschenmasse zu viel geworden und ich hatte mich noch vor dem Ende des Gottesdienstes zurückgezogen. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass mein Fehlen auffallen würde. Ich wäre auch schon längst wieder in der Taverne, mich hochgelegten Beinen, vor mir ein eisgekühlter Minztee, wenn mich nicht die Kerzen vor Meropes Schrein in diese Gasse gelockt hätten.
„Ist das so?" Thalia lächelte jetzt nicht mehr, aber ich war trotzdem dankbar, dass sie das Thema fallen ließ. Sie trat ein paar Schritte auf mich zu, bis wir gemeinsam vor dem Bildnis Meropes standen. „Wusstet Ihr, dass diese Wand hier einmal die Außenmauer des Alten Tempels war?", fragte sie. „Deswegen der Schrein der Hexenkriegerin Merope. Im Inneren soll es eine noch größere Statue ihrer Dämonin gegeben habe. Natürlich ist der Tempel heute versiegelt. Die Statuen wurden zerstört, als wir der Dämonin die Ehre der Altäre entzogen haben. Und mit ihr auch Merope."
„Scheint sich ja nicht jeder daran zu halten", murmelte ich mit einem Blick auf die Kerzenstummel und verwelkten Blüten zu Füßen der Statue. Manche davon brannten noch. Wer auch immer sie entzündet hatte, musste entweder sehr dumm oder aber sehr mutig sein.
Thalias Stimme war ohne jede Emotion. „Schwarze Schafe gibt es immer. Vermutlich nur eine Mutprobe unter Jugendlichen."
„Wenn Ihr das sagt." Ich wählte meine Worte vorsichtig, wohl wissend, dass ich auf brüchigem Untergrund wandelte. „Ihr wisst ja ziemlich viel über Hexen."
„Sie waren der Schwerpunkt meiner Studien an der Akademie." Thalia schaute mir in die Augen. „Eine Soldatin sollte ihre Feinde kennen. Es ist schwer zu bekämpfen, was man nicht versteht."
„Und?" Ich hielt ihren Blick. „Versteht Ihr sie?"
„Gut genug, um sie zu fürchten." Sie nickte mit ihrem Kopf zu den steinernen Figuren an der Wand. „Auch eine verletzte Schlange kann noch beißen. Manchmal tut sie es gerade dann."
Aber nicht, wenn sie tot ist. Ich öffnete schon den Mund für die Erwiderung, als ein Schrei die Mittagsruhe durchdrang.
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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...