Mera
Mein Kopf brach durch die Wasseroberfläche.
Ich blinzelte die Tropfen von meinen Wimpern, bis sich mein Blick klärte. Mir gegenüber tauchte Kore auf. Ihre Augen leuchteten durch die Dunkelheit, weit aufgerissen.
Ihre Augen. Grün, wie meine. Wieso war es mir nie aufgefallen? Der gleiche ungewöhnliche Farbton? So einiges machte plötzlich Sinn. Ihre Magie war dort im Wald beim Wolfsangriff nicht erwacht, weil sich jemand in Lebensgefahr befunden hatte, sondern weil ich mich in Gefahr befand. Ihr eigenes Fleisch und Blut. Und mein Name. Der Name, den sie ihrer Tochter gegeben hätte...
Eine Weile starrten wir uns an, noch immer Hand in Hand. Hatte sie gesehen, was ich gesehen hatte?
„Merope", flüsterte Kore. Schwer zu sagen, ob ihre Wangen vom Wasser oder von Tränen glänzten. „Tochter."
Rasch ließ ich ihre Hand los, wich zurück. „Nein..." Ich musste hier weg. Meinen Vater sprechen. So schnell es ging.
Mit beiden Armen stemmte ich mich aus dem Wasserbecken. Sofort trockneten meine Haare und Kleider, als sei ich nie nass gewesen. Anankes Erinnerung vor dem Fenster war verschwunden. Nur ihre Blüte trieb noch einsam im Wasser. Ich ging hinüber, wo mein Bogen und mein Messer auf dem nadelbedeckten Boden lagen.
„Mera!" Hinter mir hörte ich, wie Kore aus dem Becken stieg. „Bitte. Lass uns reden."
Nein. Ich wollte nicht reden. Ich wollte meinen Vater. Ich wollte ihn anschreien, ihn fragen, warum er mir über ein Jahrzehnt verschwiegen hatte, dass meine Mutter und er nicht meine leiblichen Eltern waren. Ich wollte toben, beißen. Ich wollte ihm in den Arm fallen und weinen.
Tränen brannten in meinen Augen. Dann, als ich mich umwandte, sah ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Eine Klinge blitzte zwischen den Bäumen auf. Sofort waren meine Sinne alarmiert. Ich wirbelte herum.
Der Soldat trat aus dem Schatten. Mondlicht reflektierte über seine silberne Rüstung und ich erkannte das Wappen des Königs. Hinter ihm folgten noch weitere Männer, alle mit gezogenen Waffen.
Meine Hand schnellte zum Köcher.
„Ganz ruhig", sagte der Soldat, „Wir wollen nur, was ihr hier gefunden habt. Gebt es uns und ihr könnt in Frieden gehen."
Die Blüte. Sie suchten die Blüte. Schnell warf ich einen Blick nach hinten zum Wasserbecken, wo sie noch immer trieb.
Wie hatten sie uns gefunden? Damian würde wohl kaum unseren Standort weitergeben, um sich die Blüte zu schnappen. Nicht, wenn es seine eigene Mission war. Kam nur eine in Frage: Thalia hatte uns verraten.
Meine Entscheidung fiel in Sekunden. Ich zog einen Pfeil, spannte den Bogen und schoss. Der Pfeil prallte am Brustpanzer des Soldaten ab, aber nur weil er sich rechtzeitig bewegte. Bevor ich Zeit hatte, einen zweiten einzulegen, folgte auch schon die Antwort.
„Nein!" Kore stieß mich zur Seite, baute sich vor mir auf. „Lasst sie in Ruhe!" Weißes Licht füllte ihre Handflächen, pure pulsierende Energie. Die Soldaten wichen zurück, sichtlich erschrocken, doch es war zu spät. Mit einem Schrei schleuderte Kore einen Energieball auf den ersten. Als er zusammenbrach schoben sich Spina Ranken aus dem Boden, wickelten ihn ein.
„Mera! Nimm die Blüte und lauf!", schrie Kore, während sie den nächsten Ball schleuderte.
Ich dachte ja gar nicht daran. Rücken an Rücken mit ihr zog ich einen weiteren Pfeil und schoss.
„Da sind sie! Da drüben! Mera!" Mein Vater kam durch die Ruinen auf mich zugerannt, seinen eigenen Bogen in der Hand. Thalia folgte ihm dicht auf den Fersen. Wie bei Kore waren ihre Hände mit Licht gefüllt.
„Wir teilen uns auf!", schrie sie ihm zu. „Übernehmt die rechte Seite!"
Ich duckte mich weg, als ein Pfeil knapp über meinen Kopf sauste, dicht gefolgt von Kores Magie. Ein Soldat nahm mich ins Visier und ich warf mich auf den Boden, rollte unkontrolliert zur Seite, die Stufen hinab, bis ins Wasserbecken. Erneut schlug das verzauberte Wasser über meinem Kopf zusammen. Durch halb geöffnete Augenlider sah ich die Blüte vor mir in den aufgewühlten Wellen schaukeln. Aus einem Impuls heraus streckte ich die Hand aus, bekam eines der weißen Blätter zu fassen.
Eine Schockwelle jagte durch meinen Körper. Wie ein Blitz. Ein Schlag. Sie versetzte etwas in mir in Alarmbereitschaft. Ließ mich schaudern, heiß und kalt zugleich. Ein Ruf, dessen Echo in meinen Adern widerhallte.
Und etwas in meinem Blut antwortete. Plötzlich begann es in meinem ganzen Körper zu kribbeln, als liefen hunderte Ameisen unter meiner Haut umher. Heiße Schauer wanderten von meinen Füßen aufwärts, überzogen mich mit Gänsehaut bis unter die Haarwurzeln und wieder zurück. Selbst meine Zähne kribbelten, als hätte ich Kreislaufschwäche. Mein Herzschlag beschleunigte sich, meine Pupillen wurden weit, nahmen jedes Detail des Kampfes vor mir auf. Dann brach etwas aus meinen Fingerspitzen hervor. Etwas Weißes, Leuchtendes.
Licht.
Nein-
Magie.
Sie sprengte mich auf. Floss mit dem Licht aus mir heraus, wie aus einer geplatzten Eierschale, die ein Neugeborenes offenbarte. Mein Bewusstsein schien sich mit ihr auszuweiten. Es war, als hätte ich plötzlich hunderte unsichtbare Arme, die ich alle mit meinem Geist steuern konnte. Ein bloßer Blick, ein Gedanke, eine Bewegung an der magischen Verbindung und zehn Meter vor mir löste sich ein Stein aus der Tempelmauer. Stieß einem der Soldaten vor die Brust und schlug ihn zu Boden. Ich streckte meine unsichtbaren Arme von mir, trieb Dornen aus dem Boden, brach die Erde auf mit einer Kraft, die ich nie zuvor gefühlt hatte. Es war so leicht. So leicht wie atmen.
Hitze strömte durch mich. Unerträglich, aber gleichzeitig so berauschend. Das Leuchten in meinen Handflächen wurde immer stärker, breitete sich aus über meinen ganzen Körper. Ich blickte an mir herab und sah meine Haut durch die Kleidung stahlen, als meine Füße den Boden verließen. Ich schwebte, glühte, brannte.
Irgendwo um mich herum hörte ich Schreie. Thalia oder Kore, ich konnte es nicht sagen.
Noch immer schwebte ich, während mich die Magie durchglühte wie ein zweiter Herzschlag. Ich lege den Kopf in den Nacken, breitete die leuchtenden Arme aus. Wie durch Watte nahm ich wahr, dass ich Schmerzen hatte. Schlimme Schmerzen. Qualen, gleich einem Kind, das mit dem Feuer spielt und sich verbrennt. Aber ich war trunken von meiner neuen Macht. Kein Wein der Welt hatte mich je so berauscht und gleichzeitig so klar im Geist gelassen. Es fühlte sich so gut an. So quälend gut, dass ich es kaum ertragen konnte.
Konnte man davon sterben? Nicht durch zu viel Schmerz, sondern durch zu viel Genuss? War das mein Ende? Hier zu verbrennen, eine Hexe, die nicht gewusst hatte, dass sie eine war und deren Macht sie jetzt von innen heraus auffraß?
Die Magie in mir ballte sich zusammen. Dann entlud sie sich in einer Druckwelle, die den Tempel erzittern ließ. Im gleichen Moment ließ das Feuer in mir nach. Erlosch, als sei es nie da gewesen.
Ich fiel, stützte dem Boden entgegen. Bevor ich schreien konnte, war ich bewusstlos.
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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...