Merope.
Ein kalter Schauer kroch mir über den Rücken, obwohl es unter meiner Decke mehr als warm war. Die Hexenkriegerin, nach der ich benannt war. Der Altar in Thisbe. Die Statue einer Frau, die zusammen mit der Schlange durchbohrt wurde.
„Was soll mir die Geschichte sagen?", murmelte ich. „Dass man Fehler mit dem Tod bezahlen muss?"
Die Hexe schüttelte den Kopf. Ich spürte es, weil ihr Kinn über meinen Kopf schrammte und mein Haar durcheinander brachte. „Sie soll sagen, dass selbst die berühmtesten und verehrtesten Menschen Fehler gemacht haben. Schwerere als du. Aber das bestimmte nicht, wer sie waren. Am Ende zählt, wie du nach einem Fehler weitermachst. Lass dich nicht hängen, Merope. Du trägst einen zu großen Namen dafür."
Ich drehte leicht den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen. „Seit wann duzen wir uns?"
„Wir haben genug zusammen durchgemacht, oder?" Sie lächelte. „Mein Name ist Kore."
„Heißt das, du hast deine Erinnerungen zurück?"
„Nein. Nur meinen Namen und meine Magie. Vielleicht waren beide irgendwie verknüpft."
„Du hast sie in dem Moment zurückbekommen, als du mich retten wolltest."
Sie zuckte mit den Schultern. „Das ist der Sinn von Magie. Die Aufgabe der Magierinnen. Helfen. In dieser Hinsicht sind wir den Waldweisen nicht unähnlich." Bei der Erwähnung der Waldwacht wollte ich schon betreten den Kopf senken, doch sie schob mir sachte zwei Finger unters Kinn und brachte mich dazu, den Blickkontakt zu halten. „Ich habe keine Kinder", sagte sie leise, „Vermutlich werde ich auch keine mehr bekommen, dank all der verlorenen Zeit. Aber hätte ich eine Tochter gehabt, dann hätte ich sie Merope genannt. Und wenn sie auch nur halb so mutig und gütig und klug gewesen wäre wie du, wäre ich mehr als stolz auf sie. Ich bin sicher, dein Vater sieht das genauso." Ihr ehrliches Lächeln brachte mich fast wieder zum Heulen. Ich blinzelte heftig, aber trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass Tränen fielen. Gott, wie tief war ich gesunken, wenn ich mich von einer Hexe bemuttern ließ? Vielleicht hatte der frühe Tod meiner Mutter ja irgendeinen Komplex bei mir ausgelöst.
„Hier." Sie kramte in ihrer Tasche und kurz dachte ich, sie würde mir ein Taschentuch reichen. Stattdessen zog eine zerknitterte Papierschachtel hervor. „Wollte ich dir eigentlich längst geben."
Zögerlich griff ich in die Tüte und zog eine glatte schwarze Scheibe hervor. „Ist das...Schokolade?"
„Mit Orange, ja. Vom Markt beim Letzten Baum. Du hast erwähnt, dass du die magst."
„Das...danke." Ich war zu gerührt, um mehr zu sagen. Auf meiner Zunge breitete sich der vertraute Geschmack von Orange und Kakao aus. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mir das letzte mal jemand etwas geschenkt hatte. Ich kaufte sonst alles, was ich brauchte, selbst.
„Ruh dich jetzt aus", sagte Kore nur und wischte mir mit dem Daumen die Tränen vom Gesicht. „Morgen planen wir, wie es weitergeht, ja? Ich setze mich an den Eingang und halte Wache."
„Muss das sein? Kannst du nicht einfach hier bleiben?" Ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen kroch, aber ich war körperlich und nervlich einfach zu fertig, um mich von Peinlichkeit stoppen zu lassen. „Tut mir leid. Ich will dir nicht lästig sein, aber-"
„-aber auch nicht allein?", fragte Kore leise.
„Ja." Ich schluckte. Meine Wangen brannten. Es tat weh, es auszusprechen. Dass ich mich einsam fühlte. Dass ich, die unabhängige Waldweise jemanden brauchte. Ich fühlte mich so nackt, verletzlich. Als hätte ich eine glühende Klinge auf meinen Stolz gedrückt. Ein spöttisches Wort von Kore jetzt, nur ein verächtlicher Gesichtsahsdrück und sie würde mich zum Weinen bringen, wie ein kleines Kind. Ich wusste es und sie wusste es. Noch nie hatte ich mich irgendjemandem gegenüber so verwundbar gezeigt wie heute Nacht.
Kore gab keine Antwort. Zumindest nicht mit Worten. Sie schob sich nur ein Kissen in den Rücken und breitete still die Arme aus.
Zögernd stützte ich mich mit den Handflächen am Boden ab. „Ist das wirklich in Ordnung? Wenn ich dich nerve-"
„-dann hätte ich dich längst in eine Kröte verwandelt."
Ein Schmunzeln zupfte an meinen Mundwinkeln. „Dazu hast du doch gerade gar nicht genug Magie." Vorsichtig rückte ich näher und lehnte mich an sie.
„Käme auf einen Versuch an", sagte Kore. Sachte bettete sie meinen Kopf in ihre Halsbeuge und ich holte bebend Luft. Auf einmal war mir viel wärmer als vorher und nicht nur, weil meine Wangen noch immer glühten. Ihre Haut strahlte Hitze aus, fast unnatürlich für einen Menschen. „Du hast Fieber", murmelte ich in ihren Umhang.
„Das ist nur die Magie. Mein Körper muss sich erst wieder an sie gewöhnen. Sei froh drum, draußen ist es kalt." Kore hielt mich fest und rutschte ein Stück am Stamm nach unten, damit ich flacher liegen konnte. Dann löschte sie mit einer Handbewegung das künstliche Licht und tauchte uns in Dunkelheit.
„Es ist keine Schwäche, zu gestehen, dass man einsam ist, Mera. Oder verzweifelt. Oder Angst hat und alleine nicht mehr weiter kommt", sagte Kore leise in die Stille. „Im Gegenteil. Oft erfordert es sogar mehr Mut als zu schweigen. Irgendwann habe ich das mal schmerzhaft gelernt. Auch wenn ich mich immer noch nicht erinnern kann, wodurch."
Ich schmiegte mich in ihren Mantel und erlaubte mir für einen Moment die Vorstellung, eine Mutter zu haben. Eine echte, nicht nur eine idealisierte Erinnerung. Jemanden zum Anlehnen, jemanden der einfach da war. Meine Wange ruhte schwer auf Kores Brustbein und ich spürte ihnen Herzschlag darunter. Der gleichmäßige Rhythmus machte mich schläfrig. Dazu ihre Wärme und der Regen, der noch immer auf das Zeltdach tropfte. Im Nu waren meine Augenlieder träge wie Blei.
Wer hat nochmal behauptet, Hexen hätten kein Herz?, dachte ich, bevor ich in den Schlaf dämmerte. Nun, wie auch immer. Er war ein Narr.

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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...