Wir sanken in die Tiefe, Hand in Hand.
Eine Weile sah ich nur Schwärze. Dann klärte sich das Bild und eine Szene schälte sich aus der Dunkelheit.
Da war ein dämmriges Zimmer voller Betten, jedes durch einen Vorhang abgetrennt. Ich kannte den Raum. Als Kind hatte ich hier mal gelegen, als ich mir den Fuß an einer Wurzel im Wald verdreht hatte. Es war die Krankenstation in Eldra. Noch immer hielt ich Kores Hand fest umschlossen und sie meine, wie einen Anker in die Realität.
Eine Frau lag auf dem Bett vor uns. Sie hatte ein Baby im Arm, das sie stillte. Als sie den Kopf hob, sah ich, dass es eine etwas jüngere Version von Kore war. Dann konnte das nur bedeuten-
Ja. Das Baby in ihren Armen war Eporem. Der geopferte Sohn. Noch lebte er offensichtlich. Die jüngere Kore schien zufrieden, ihre ganze Aufmerksamkeit war auf das Kind gerichtet. Leise lächelnd sang sie ihm eine Melodie vor. Während sie sang, merkte sie nicht, wie sich ein Schatten aus einer Ecke des Zimmers löste. Als trüge sie die Dunkelheit selbst als Mantel, trat eine Gestalt vor das Bett. Unter der Kapuze waren schwach die Züge eines menschlichen Gesichts auszumachen, aber die Augenpartie lag vollständig im Schatten.
„Ich habe Wort gehalten, Magierin", sagte eine tiefe, wohlklingende Stimme, geschmeidig wie Honig. Als Kore die Figur bemerkte, zuckte sie zusammen und drückte Eporem instinktiv enger an sich. „Dein Problem ist gelöst, ohne dass deine Schwestern davon erfahren haben. Kehre in den Süden zurück und nimm deinen Platz in ihren Reihen wieder ein. Aber zuerst...meine Bezahlung."
„Ich gebe Euch, was immer Ihr wollt", antwortete Kore zitternd.
Die Lippen unter dem Kapuzenrand verzogen sich zu einem Schmunzeln. „Was immer ich will?"
„Alles. Gold, Schmuck, Informationen. Ich bin die Akolytin. Ich kann Euch beschaffen, nach was es Euch verlangt."
„Und ich bin einer der Paraklet", sagte die Gestalt unbeeindruckt, „Glaubst du mich interessiert das Spielzeug der Sterblichen. Gold? Schmuck? Ich will etwas anderes. Ich will ein Opfer."
Kore zögerte. „Opfer stehen nur Gott zu."
„Und doch opfert ihr Magierinnen Ananke? Sie ist auch nur eine der Paraklet. Ein geschaffenes Wesen, keine Göttin."
„Wir opfern Gott, nicht ihr. Sie ist seine Dienerin. Eine Mittlerin. Fürsprecherin. Jede Ehre, die wir ihr erweisen, gilt ihm. Sie gab Gottes Geschenk an uns weiter und wir ihr unseren Dank und Lob an ihn."
„Das ist bei mir doch auch so", beschwichtigte der andere. „Wir haben den gleichen Gott. Also gib mir ein mächtiges Opfer für ihn, damit ich ihn zufriedenstelle."
„Mächtig?"
„Opfern bedeutet, etwas Wertvolles für jemand anderen aufzugeben. Das mächtigste Opfer ist das, was am wertvollsten ist. Und bei euch Menschen ist das entweder euer Leben. Oder das eurer Kinder."
Kore riss die Augen auf. „Nein! Bitte! Ich kann nicht-"
„Das hättest du dir früher überlegen müssen. Der Pakt ist geschlossen. Du hast bis morgen Nacht, um dich zu verabschieden. Dann wirst du mir dein Kind schenken. Getötet von deiner eigenen Hand auf Anankes Altar. Schulden müssen immer beglichen werden."
Die Szene wechselte erneut, verwirbelte sich in einem Meer aus Silber. Diesmal folgten wir Kore durch den Wald. Sie trug eine weiße Tunika im Stil des Südens und ein Schleier steckte in ihrem Haar, ganz wie eine Tempelpriesterin. Ihr Sohn war weg. Stattdessen hob sie einen Stein vom Boden auf, etwa so groß wie ein Laib Brot und wickelte ihn in weiße Tücher. Dann begann sie zu singen, eine jener Melodien in der fremden Sprache, mit der sie auch meinen Knöchel geheilt hatte. Der Stein begann zu glimmen und ihn überlagerte ein verschwommenes Bild, wie eine Fata Morgana. Zehn Sekunden später wirkte es, als hielte Kore ein Baby. Einen künstlichen Eporem.
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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...