Damian
Auch im Süden war der letzte Tag der Nemesis ein Grund zum Feiern. Allerdings ging es dabei deutlich weniger fröhlich zu.
Am frühen Abend, als die rote Sonne den Himmel färbte wie ein blutiges Leichentuch, schlängelte sich eine Prozession vom Palast zum Tempel hinab. Allen voran der verstorbene König, aufgebahrt in einem offenen Wagen, sein Schwert in den Händen und das Wappen von Verlon auf der Brust. Ihm zur Seite ging schweigend seine rot gekleidete Leibwache. Dahinter, auf einem schwarzen Pferd und in goldener Uniform, ritt der Thronfolger. Die letzten Sonnenstrahlen spiegelten sich in den blank polierten Schulterplatten, rahmten sein Gesicht wie ein Heiligenschein. Es passte nicht wirklich zu seiner ernsten Miene und dem gesenktem Haupt. Ein ganzer Tross an Adeligen und Soldaten folgte ihm. In ihrem Rücken zog bereits die Nacht herauf. Schwarz und schwer, wie ein Omen.
Entlang der Straßen war der Weg von den Bewohnern Thisbes gesäumt. Frauen wie Männer hatten sich dunkle Schleier über die Köpfe gezogen. Es war alles dabei, vom Seidentuch, bis zum verblichenen Lumpen. Die ganze Stadt war nach draußen gekommen, um ihrem König, dem Retter des Landes, Lebewohl zu sagen. Und seinen Nachfolger auf dem Weg zur Krönung zu sehen.
Viele hielten rote Gläser mit flackernden Lichtern in den Händen. Es herrschte fast gespenstische Stille. Keiner sprach, nur die Schläge einer einsamen Trommel an der Spitze des Zugs hallte von den Fassaden wider. Hin und wieder hörte Damian auch ein Schluchzen aus der Menge.
Er konnte es verstehen, in gewisser Weise. Für die Menschen war sein Vater ein Held gewesen. Der starke König, der sie vom Grauen der Magie erlöst hatte. Sie hatten nie vor ihm knien und sich seinem unbarmherzigen Blick aussetzen müssen. Manchmal war es besser, jemanden nur als unerreichbaren Heiligen zu kennen, nicht als Menschen aus Fleisch und Blut. Aus der Ferne idealisierte es sich leichter.
Damian machte sein Gesicht hart und regungslos. Es fiel ihm nicht schwer, nervös wie er war. Selbst als ein paar Trauernde die Wand der Soldaten durchbrachen und ihn am Bein berührten, behielt er seine Fassade bei. Zweifellos war es eine Geste des Mitgefühls mit ihm, der nicht nur einen Helden, sondern seinen Vater verloren hatte. Oder sie wollten ihn berühren, weil sie ihn jetzt für den neuen Heiligen hielten. Den nächsten Mund, das nächste Werkzeug, durch das Lux seinen Willen kundtun würde.
Variante eins war ihm lieber.
In Stille erreichten sie den Tempelvorplatz. Jenen Ort, an dem er vor einem Monat die angebliche Hexe gerettet hatte. Was war seitdem nicht alles passiert?
Ein großes Feuer loderte in der Mitte des Platzes und auch hier erwartete ihn ein schweigendes Meer aus Kerzen. Er hätte viel dafür gegeben, wenn Veronika unter ihnen gewesen wäre. Mera oder Thalia. Stattdessen erkannte er Livia, mitsamt ihrer Mutter und Freundinnen in der ersten Reihe. Mal wieder erinnerten sie ihn daran, wie allein er inzwischen war. Zwar hatte er einen Boten mit den Neuigkeiten zu Veronika geschickt, aber es konnte noch Tage oder Wochen dauern, bis der sie fand und zurückbrachte.
Vor dem Portal standen der oberste Tempelpriester und seine Dienerinnen. Sie würden seinen Vater unter die Erde bringen, sobald Damian nach drinnen gegangen war, um sein Zwiegespräch mit Lux zu führen.
Claudius trat an Damians Seite und half ihm vom Pferd. Bevor er zurücktrat, drückte er kurz seine Schulter. „Kopf hoch, Majestät", flüsterte er. Der Ratsherr wirkte angespannt. Was machte einen Mann wie Claudius nervös? Schwer zu glauben, dass es nur die Krönung war.
Damian trat vor den Obersten Tempeldiener. Er verneigte sich und mit ihm der ganze Platz. Dann begann er ein Gebet anzustimmen, ein gesprochenes Lob an Lux, so langsam, dass Damian unruhig von einem Fuß auf den anderen trat.
Junge Männer traten hervor und löschten das Feuer in der Mitte des Platzes. Den ganzen Mittag lang war die Krone Verlons darin neu geschmiedet worden. In die letzten glühenden Kohlen warfen sie Harzstückchen und eine Säule aus Weihrauch stieg aus der Asche hinauf in die Nacht.
Tempeldienerinnen traten vor Damian. Begleitet von Gebeten salbten sie seine Handflächen mit rotem Öl, danach die Mitte seiner Stirn. Zeichen seiner neuen Königswürde, seiner Aufgabe als Gottes Mund und Ohr.
Anschließend machten sie Platz, entfernten sich vom Portal und öffneten die großen Flügeltüren. Alle Blicke ruhten jetzt auf ihm. Unsicher ging Damian seine ersten Schritte allein in den Tempel.
Drinnen war es dunkel. Durch die rot verhängten Fenster drang kaum noch Licht in den Raum. In einigen Seitennischen brannten Kerzen, genau wie vor den Statuen, aber die Atmosphäre war einer Gruft nicht unähnlich.
Damian hörte seine eigenen Schritte von den Marmorwänden widerhallen, als er seinen einsamen Gang fortsetzte. Wie hatte sich sein Vater wohl dabei gefühlt, all die Jahre? Wissend, dass nur ein paar Meter vor ihm ein Gott auf seinen Bericht wartete? Allein der Gedanke daran konnte einen doch schon wahnsinnig machen. Es war übermenschlich, was von ihnen verlangt wurde. Und die Leute dachten, es sei ein Privileg.
Mit klopfendem Herzen hielt Damian inne. Vor ihm ragte die Statue von Lux auf, kaum erhellt durch Kerzen, deren schwacher Schein sich im schwarzen Stein verlor. Zu seinen Füßen war das goldene Gitter schon geöffnet worden. Dahinter führte die kleine quadratische Öffnung in die Kammer der Namen. Ins Herz des Tempels. Ins Allerheiligste.
Damian schluckte. Von Nahem kam ihm die Öffnung vor, wie ein schwarzer Schlund, der ihn und alles Lichte, Lebendige verschlingen wollte. Er nahm sich eine Fackel vom Fuß der Statue und wappnete sich innerlich. Veronikas Worte hallten durch seinen Kopf.
Mut, mein Junge.
Mit zitternden Beinen sank er auf die Knie und kroch in den Durchgang. Die Wände um ihn herum schienen grob behauener Fels zu sein, wie ein Tunnel aus alter Zeit. Auf allen Vieren arbeitete er sich voran, bedeckte seine Hose und Hände mit Staub, während er gleichzeitig versuchte, die Fackel möglichst aufrecht zu halten. Nach ein paar dutzend Metern öffnete sich der Tunnel und Damian konnte wieder aufrecht stehen. Mühsam rappelte er sich auf, die Fackel ausgestreckt in die Dunkelheit, wie ein Schwert aus Feuer. Vor ihm erstreckte sich ein würfelförmiger kleiner Raum. Gemauert und fensterlos. Schlicht, für die Wohnung Gottes auf Erden.
Als das Licht durch die Kammer fiel, setzte Damians Herz einen Schlag aus. Dort, an der Rückwand, beleuchtet vom zitternden Schein seiner Fackel, war eine Gestalt.
Und er kannte sie.
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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...