Kapitel 2.2: Am Ersten der Nemesis

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Er hatte die Hexe in einem Dienstbotenzimmer des alten Palastflügels untergebracht. Hier kam niemand zufällig vorbei, keine Soldaten seines Vaters und vor allem keine neugierigen Höflinge. Die Lampen entlang des Gangs waren gelöscht, wie angeordnet, er erkannte die Wachposten vor der Tür erst auf den zweiten Blick. Bestens.

Eine Dienerin stand bei ihnen und redete hastig flüsternd auf einen der Wachen ein. Als sie Veronika und ihn näherkommen sah, knickste sie. „Eure Hoheit. Herrin."

Damian kommentierte ihren Gruß mit einem Kopfnicken. „Hat die Gefangene etwas gegessen?"

„Ein wenig Suppe und Brot."

„Gut", sagte Veronika. „Überfordert sie nicht. Vermutlich wird ihr Körper Zeit brauchen, sich umzustellen."

In Wahrheit wusste keiner von ihnen, was die Hexe brauchte und was nicht. Nicht einmal Veronika, die ihm manchmal vorkam, wie eine wandelnde Bibliothek sämtlichen Weltwissens, hatte schon einmal von einer Frau gehört, die jahrelang schlief. 

„Sonst irgendwelche Neuigkeiten?", raunte Damian.

„Ja, Hoheit. Ich konnte mit der Gefangenen sprechen. Wir haben immer noch keinen Namen. Entweder will sie ihn nicht sagen, oder sie weiß ihn wirklich nicht. Ihr Gedächtnis hat eindeutig Lücken. Sie weiß, dass sie eine Hexe ist. Aber sie erinnert sich nicht an die Nemesis. Und auch nicht, wie sie selbst in Gefangenschaft geraten ist."

Veronika runzelte die Stirn. „Eine Hexe, die sich nicht an die Hexenverfolgungen erinnert? Das dürfte wohl einmalig sein."

„Herrin..." Die Dienerin warf Veronika einen unsicheren Seitenblick zu. „Verzeiht mir, wenn ich einen Fehler gemacht habe, aber...wir haben ihr ein bisschen von der Nemesis erzählt. Und...naja. Sie hat nach Namen gefragt. Also haben wir eine Liste aller damals getöteten Hexen aus den Archiven holen lassen. Ich dachte, vielleicht weckt es eine Erinnerung."

„Und?" Damian hob eine Braue. „Hat es eine geweckt?"

„Ich weiß nicht. Sie liest noch, Hoheit..."

Veronika schenkte dem Mädchen ein mildes Lächeln. „Das war klug von dir. Du hast gute Arbeit geleistet. Kümmere dich jetzt um deine anderen Aufgaben."

Die Dienerin knickste erneut, sichtlich erleichtert, den prüfenden Fragen zu entkommen. Damian konnte es ihr nicht verdenken. Er kannte das Gefühl. Genauso ging es ihm bei jeder Audienz mit seinem Vater.

„Hast du die Hexe von einem Arzt untersuchen lassen?" Veronika drehte sich zu ihm um.

„Nein."

Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Du schickst diese Frau auf eine Wanderung durch das halbe Land, ohne zu wissen, ob sie körperlich überhaupt dazu in der Lage ist?"

„Das spielt keine Rolle. Sie muss da durch, egal, was es kostet."

„Damian! Hörst du dich selbst reden?"

„Was soll ich denn machen?", zischte er. „Ich vertraue keinem von denen. Die Sache hat schon genug Mitwisser. Zur Not muss Thalia sie eben tragen."

Veronika schnaubte. „Das will ich sehen!" Dann seufzte sie. „Hoffentlich weiß deine Waldweise auf was sie sich einlässt. Und hoffentlich versteht sie ihr Handwerk."

Damian gab den Wachen ein Zeichen. Einer von ihnen kramte seinen Schlüsselbund hervor und schloss mit einem leisen Klirren die Tür auf. Im Raum dahinter war es nicht viel heller als auf dem Gang. Das einzige Fenster ging in Richtung Felder, weg von der Stadt, und die Landschaft war seit dem Einbruch der Nacht in Dunkelheit gehüllt. Hin und wieder konnte er die speerspitzenförmigen Schatten von Zypressen erahnen, die in Reihen die Wiesen und Wege säumten, aber ansonsten wirkten die Hügel um Thisbe bei Nacht wie ein sanft gewelltes schwarzes Meer. 

Ein Luftzug, der mit dem Öffnen der Tür in den Raum gedrungen war, ließ die Öllampe am Boden, flackern. Es war die einzige Lichtquelle und sie beleuchtete die Gestalt einer Frau. Die Hexe kauerte auf dem nackten Steinboden neben ihrem Bett, in eine schlichte braune Dienstbotenrobe gehüllt. Ohne das unheimliche weiße Kleid und die Dornenranken, die sich um ihren Körper schlagen, sah sie fast aus wie ein normaler Mensch. In den Händen hielt sie eine Pergamentrolle. Ihr Haar war so lang, dass es ihr Gesicht verdeckte und über den Stein strich, als sie sich vorbeugte, um im Schein der Lampe zu lesen. Die Flammen warfen flackerndes Licht auf das Papier und ihre Hände. Damian konnte die Dornenfesseln erkennen, die sich wie filigrane Armbänder um ihre Handgelenke wanden. Sie waren Fragmente der Spina, die einzigen, die sie nicht entfernt hatten. Nach allem, was sie wussten, konnten sie so verhindern, dass die Hexe Magie verwendete. 

„Hat sie Schmerzen?" Veronika war hinter ihm im Türrahmen erschienen. 

Bei genauem Hinsehen erkannte Damian es auch. Die Hand der Hexe, mit der sie die Schriftrolle hielt, zitterte. Die andere hatte sie aufs Herz gepresst. Und sie...weinte?

Er räusperte sich. „Hexe?" Damian konnte Veronikas missbilligenden Blick fast körperlich spüren, aber er wusste wirklich nicht, wie er sie sonst ansprechen sollte. Herrin wäre zu respektvoll für eine Gefangene.

Die Frau sah auf und der dichte Vorhang aus blonden Locken vor ihrem Gesicht teilte sich. Ihre Augen begegneten seinen. Sie erkannte ihn, das fühlte er. Sein Gesicht war das erste, was sie nach ihrem Aufwachen gesehen hatte. Sie würde es nicht vergessen, genauso wenig wie er ihres. Diese unnatürlich grünen, durchdringenden Augen, leuchtend wie Beryll oder junge Blätter im Frühling. Jetzt glitzerten Tränen in ihnen. 

Der Anblick ließ Damian schaudern. 

„Ihr habt sie umgebracht." Die Hexe sprach ruhig, mit ungläubiger Miene. Sie klang nicht einmal vorwurfsvoll. Eher verwirrt. Das Pergament entglitt ihr und segelte zu Boden. „Ihr habt sie alle umgebracht." Beim Wort alle schlich sich ein leises Beben in ihre Stimme. Sie presste die Lippen zusammen. „Warum bin ich noch hier?" Für einen Moment wirkte es, als schwankte sie zwischen Staunen und Fassungslosigkeit. Ihr Blick bohrte sich in seinen. Damian sah, wie sich ihre Brauen zusammenzogen. Wie eine Falte zwischen ihren Augen entstand. Wie sich ihr Kiefer anspannte und ihre Lippen zitterten. Er wusste aus Erfahrung, was in ihr vorgehen musste. Ohnmacht und Wut, die sich von innen heraus ihren Weg bahnten. „Warum lebe ich?"

Er öffnete den Mund, aber die Stimme blieb ihm in der Kehle stecken. 

Langsam erhob sich die Hexe, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Es bereitete ihr sichtlich Mühe, zu stehen. Etwas Schweres schleifte über den Boden, als sie einen unsicherenSchritt vor machte und erst jetzt bemerkte er, dass sie mit einer Eisenkette an das Bettgestell gefesselt war. „Warum habt ihr mich nicht auch umgebracht?" Jedes ihrer Worte klang gepresst. „Warum durfte ich nicht mit ihnen sterben? Na los." Sie hielt ihm die Hände hin, Handflächen nach oben, als wäre sie eine Bettlerin auf der Straße. „Bringt es zu Ende", flüsterte sie. „Tötet mich." 

Damian stand einfach da, erstarrt. Er spürte, wie Veronika von hinten nach seinem Arm griff.  „Ich...ich will Euch nichts tun", stammelte er. 

Das schien die falsche Reaktion gewesen zu sein.

Es war, als bräche ein zu lange aufgestauter Damm. Mit einem Schrei, einer einzigen Wehklage aus Wut, Trauer und Hass, stütze sich die Hexe auf ihn. 

Damian duckte sich weg. Veronika zog ihn am Arm zurück, irgendwo hinter ihnen rief jemand nach den Wachen, aber das Geschrei der Hexe allein musste gereicht haben, um sie zu alarmieren. 

„Tötet mich!" Nur die Eisenkette hielt die Hexe zurück. Sie war bis zum Zerreißen gespannt. Das Bettgestell ächzte und schleifte über den Stein, während die Hexe mit aller Kraft daran riss. „Tötet mich!" Es klang mehr verzweifelt, als aggressiv. Sie streckte den Arm aus und ihre Fingerspitzen streiften Damians Hals. Er wich zurück. Stolperte. Stürzte.

Dann traf die Hexe eine Faust im Gesicht und sie sackte auf die Knie. Als sei sie eine Puppe, deren Fäden durchtrennt worden waren. 

Das letzte, was er sah, bevor er hinaus in den Gang gezogen wurde, war die Hexe am Boden, niedergerungen von seinen Wachen. Einer drehte ihr die Hände auf den Rücken, der andere drückte mit dem Stiefel ihre Wange auf den Stein. Das beendete die Schreie, nicht aber die Tränen. Blut sickerte aus ihrer Augenbraue, wo sie die Faust getroffen hatte.

„Tötet mich", flehte sie, kraftlos, mit einer Stimme, von der Damian wusste, dass sie ihn in seinen Träumen verfolgen würde. „Bitte, tötet mich."


Die Dornen der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt