Kapitel 1.1: Eher gedeiht eine Eiche in der Wüste, als ein Nordländer im Süden

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Mera 

Vielleicht gehörte es zur Strafe unseres Volkes, an allem zweifeln zu müssen: An Wahrheit, Liebe und Treue. An unseren Freunden, Nachbarn und Verwandten. Allem.

Außer dem Bösen. 

Das zumindest konnte niemand in Verlon leugnen, und war er auch der größte Narr des ganzen Landes. Nicht, wenn die Spuren von Hass und Zerstörung nach wie vor so sichtbar waren. Offene, blutende Wunden im Herzen der Hauptstadt. Selbst nach siebzehn Jahren.

Ich schirmte meine Augen gegen die Sonne ab, während mein Blick über die würfelförmigen Häuser Thisbes schweifte, die sich zwischen Hügeln und Küste drängten. Wie in einer Arena stiegen die Straßen stufenförmig auf, hin und wieder mit bunten Sonnensegeln überspannt. Von meinem Fenster aus konnte ich den Beinernen Turm sehen, Sitz der Akademie, eine weiße Speerspitze zwischen den Wohnhäusern. Im Zentrum ragte der neue Tempel in den Himmel. Es war ein massiger Rundbau, getragen von Säulen aus Travertin und Marmor. Doch selbst diese Pracht konnte nicht über die vom Feuer geschwärzten Ruinen daneben hinwegtäuschen. Kein einziger Stein des alten Tempels war nach seiner Zerstörung wiederverwendet worden. Zu groß die Angst, Fluch und Verhängnis ins eigene Haus zu tragen. Also hatte man die Überreste des Bösen einfach an Ort und Stelle liegen gelassen. Und mit ihnen dutzende andere Gebäudeteile in der ganzen Stadt. Sie stachen wie dunkle Zeigefinger aus dem Meer von weißgetünchten Häuschen. Schwarz, kalt, abweisend,  als würden sie Licht und Wärme absorbieren. 

Alles Orte, wo Hexen gelebt und gewirkt hatten.

Ich schauderte, trotz der Mittagshitze. Man könnte meinen, die Nähe zum Tempel, dem Ort, wo sich Lux selbst geoffenbart hatte, würde den Menschen hier eine gewisse Sicherheit geben. Ein fast unerschütterliches Vertrauen in göttliche Hilfe. Aber für mich fühlte es sich eher nach dem Gegenteil an. Angst war eines der am zuverlässigsten lähmenden Gifte. Und diese Stadt schien voll davon. 

Freiwillig wäre ich nie hergekommen, nicht ohne meinen Vater, nicht mit meinem Beruf. Aber was hatte ich für eine Wahl?

Den König lässt man nicht warten.

Es war ein ungeschriebenes Gesetz in unserem Land. Wenn der Palast rief, antwortete man. Sofort. Ausreden zählten nicht. Und nur aus diesem einen Grund war ich hier.

„Seine Hoheit wird Euch jetzt empfangen, Meisterin." 

Ich drehte mich vom Fenster weg. Ein Mann war hinter mir im Gang erschienen. Er sah anders aus, als die Soldaten am Audienzeingang des Palastes oder die Wachen, die mich bis hier her begleitet und durchsuchte hatten. Statt der roten Uniform trug er Dunkelblau und kein Schwert hing an seiner Hüfte. 

„Nicht Meisterin", korrigierte ich ihn. Noch nicht. „Gesellin."

Er neigte leicht den Kopf. „Wie Ihr wünscht. Wenn Ihr mir folgen möchtet..."

Nett, wie sie es hier anstellten, einen Befehl wie eine Einladung klingen zu lassen. Zuhause machten es die Soldaten nicht immer so geschickt. 

Ich sah mich verstohlen um, während ich dem Pagen entlang der offenen Galerie folgte. Gelb-rote Kletterblumen wanden sich die Säulen hinauf und hingen als lebendige Vorhänge in die Bogenfenster. Sie summten und dufteten so intensiv, wie ich es sonst nur von abgefüllten Parfüms kannte, die preislich weit außerhalb meiner Möglichkeiten lagen. Hin und wieder gaben ihre Ranken den Blick auf versteckte Gärten mit Palmen, Zypressen und Orangenbäumen frei. Darunter glitzerte das Meer in der Bucht von Thisbe. Eine königliche Aussicht, im wahrsten Sinne des Wortes. Allerdings war ich wohl auch leicht zu beeindrucken. Als Nordländerin kam mir gefühlt alles im Süden aufregend und exotisch vor. 

Die Dornen der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt