Kapitel 13.1: Ein Schwarzdolch kommt selten allein

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Mera

Noch bevor ich die Augen öffnete, wusste ich, dass etwas nicht stimmte.

Das Licht hinter meinen geschlossenen Lidern verriet mir, dass es kurz nach Sonnenaufgang sein musste, aber dafür schien es viel zu still. Wo waren die Vögel? Es klang, als hielte der ganze Wald den Atem an.

Dann schlug ich die Augen auf und sah ihn. Ich musste nicht mal den Kopf drehen. Ein glühend heißer Schauer lief meinen Rücken herab. Gleichzeitig breitete sich in meinem Magen das Gefühl aus, als sei ich sehr schnell sehr tief gefallen.

Fünf Meter vor mir, auf einem Ast meines Baumes, hockte ein riesiger Vogel und putzte sein Gefieder. Es war nicht irgendein Vogel: Glänzend schwarze Federn, ein langer, spitz zulaufender Schwanz, gelbe runde Augen mit schlitzförmigen Pupillen wie eine Schlange und ein zweischneidiger Schnabel, schärfer als jedes Messer.

Ein Schwarzdolch.

In meinen grünen Umhang gewickelt und verborgen zwischen den Baumkronen wie ich war, hatte er mich noch nicht bemerkt. Sonst wäre ich jetzt tot. Dieser Schnabel konnte einen menschlichen Schädel mühelos aufhacken.

Mit einem schnellen Blick den Stamm hinunter vergewisserte ich mich, dass der Rest meiner Truppe am Boden noch immer schlief. Wenn jetzt einer von ihnen aufwachte und zu reden anfing...

Mein Herz hämmerte, als ich den Schwarzdolch ins Visier nahm. Ich hatte nur einen Versuch.

Leise griff ich nach hinten, wo mein Köcher zwischen eine Astgabel geklemmt war. Ich zog einen Pfeil hervor, während ich mit der anderen nach meinem Bogen tastete. Meine Finger schlossen sich um das Eibenholz, fanden die vertrauten Stellen, wo es von häufigem Gebrauch glatt geschliffen war. Der Vogel plusterte seine mächtigen Flügel und klapperte mit dem Schnabel. Ich nockte den Pfeil ein. Meine Augen fanden die des Schwarzdolches.

In einer einzigen fließenden Bewegung hob ich den Bogen und zog die Sehne zurück, bis sie meine Wange einschnitt. Zielte. Atmete. Hielt die Luft an.

Und ließ los.

Meine Backe vibrierte als der Pfeil mit einem Surren auf den Schwarzdolch zuschoss. Fast lautlos durchstieß er den kleinen Kopf. Einen Moment hielt sich der überraschte Vogel noch aufrecht. Dann kippte er seitlich vom Ast wie ein nasser, schwarzer Sack.

Ich seufzte erleichtert und lehnte mich mit geschlossenen Augen gegen den Stamm meines Baumes. Zischend entwich meine aufgestaute Luft durch die Zähne. Gleichzeitig hörte ich den Vogel durch das Blattwerk krachen. Ein paar dünne Zweige knackten und brachen, bis er schließlich mit einem Rumsen am Boden aufschlug. Tot.

Sofort setzte unten erschrockenes Stimmengewirr ein. Offenbar war der Vogel genau in den Überresten des Lagerfeuers vom Vorabend gelandet. Ich grinste verstohlen. Eine etwas unsanfte Art des Weckens, aber immerhin sparte ich mir so die mühselige Arbeit, die Männer wachzurütteln.

Hastig sammelte ich meine Sachen zusammen und begann den Abstieg von meinem Schlafplatz. Als ich am Waldboden ankam, standen die anderen schon um den toten Vogel herum. Thalias Haar ragte mindestens so zerzaust in alle Richtungen wie ihre buschigen Augenbrauen. „Hast du unser Frühstück erlegt oder wolltest du uns gerade das Leben nehmen?", fragte sie trocken.

„Im Gegenteil. Ich habe es gerettet. Ihr wisst schon, was das ist?" Ich nickte zum Vogel. „Ein Schwarzdolch." Missmutig bemerkte ich, dass mein Pfeil das Auge des Vogels, was mein eigentliches Ziel gewesen war, knapp verfehlt hatte. Trotzdem durchbohrte er den kompletten Schädel und trat auf der anderen Seite wieder aus.

Was soll's. Tot ist tot.

Das hier war kein Strohscheibenschießen. Im Arbor gab es keinen Preis für perfekt ausgeführte Technik. Hier war deine einzige Auszeichnung zu überleben und das hatte ich. Auch wenn es denkbar knapp gewesen war. Aus gutem Grund legte die Waldwacht so viel Wert auf Tarnung. In ihrer grün-braunen Kleidung, ihren Verstecken und Taktiken. Schlaf und Verletzung waren die verwundbarsten Situationen im Wald und für beide gab es klare Protokolle. Wie hatten es die älteren Männer ausgedrückt? Zum Baum werden und die Fresse halten. Das traf es in etwa.

Die Dornen der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt