Kapitel 9.1. Weißwasser

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Mera

Für einen uralten und zuweilen mörderischen Wald war die Grenze zum Arbor wenig spektakulär.

Den ganzen Morgen waren wir dem zertretenen Trampelpfad über die taufeuchten Wiesen hinter dem Letzten Baum gefolgt. Stück für Stück hatten wir den Wald näher kommen sehen wie ein dunkles Omen am Horizont. Jetzt ragte die grüne Wand vor uns auf. 

Meine Gruppe hielt inne. Niemand sprach. In fast ehrfürchtiger Stille starrten wir auf die Baumriesen. Überall an den unteren Zweigen der Büsche hingen Ketten oder Talismane, manchmal Perlen, manchmal echtes Gold, wie teure Windspiele. Auch Münzen waren hier zwischen den Wurzeln vergraben, das wusste ich aus Erfahrung. Opfer der Reisenden, für eine sichere Durchquerung des Waldes. Offiziell waren alle Opfer außerhalb des Tempels oder den hohen Feiertagen verboten und es gab strenge Richtlinien, wer was zu geben hatte. Wenn es hart auf hart kam, interessierte das allerdings wenig. Dann vertrauten die Leute meist doch lieber auf Altbewährtes. Ich konnte es ihnen nicht verdenken, beim Anblick dessen, was vor uns lag.

Zwischen den Stämmen war es dunkel. Kein Laut drang zu uns heraus, fast als würde der Wald uns beobachten.

„Wenn ihr Gebete habt, dann empfehle ich, sie jetzt zu sprechen", sagte ich. Ich setzte meinen Rucksack ab und ging ein paar Schritte, bis zu der Stelle, wo ein kleiner Bach zwischen den Wurzeln einer mächtigen Eiche hervorsprudelte. Dort kniete ich mich auf die feuchte Erde und wusch meine Hände im eiskalten Wasser. Ein reineres Wasser war südlich von hier nirgendwo zu finden. Anschließend schloss ich die Augen und benetzte mein Gesicht mit Wasser, erst die Stirn, dann die Wangen. 

„Was macht Ihr da?", hörte ich Marcus' skeptische Stimme von hinten.

Es war ein altes Ritual der Waldwacht vor dem Eintritt in den Arbor. Ein Reinwaschen von bösen Absichten. Unser Zeichen an den Wald, dass wir Freunde waren, keine Eindringlinge.

„Wascht Ihr Euch etwa nicht die Hände, wenn Ihr nach Hause kommt?", rief ich über meine Schulter. Ich legte die Hand an ein Loch im Fichtenstamm zu meiner linken und ließ mir einen Tropfen klebriges Harz auf den Daumen laufen. Mit einem gemurmelten Gebet an den namenlosen Gott schmierte ich es auf meine Stirn.

Ich bin keine Reisende, sollte es heißen, Ich bin ein Kind des Waldes. Eine Waldweise, gesalbt mit dem Blut des Arbors, wie jeder Stamm, jedes Blatt. Und jetzt kehrte ich zurück.

„Kommt mir ein bisschen abergläubisch vor, was Ihr da tut", murrte Marcus. „Lux würde-"

„Glaubt mir", ich erhob mich und wandte mich zu ihm um. „Da drin wollt ihr jeden Schutz, den ihr kriegen könnt. Gleich wie Ihr Gott nennt." Meine saubere Hand zupfte den grünen Umhang zurecht und verschloss die Spangen. Sie waren der einzige Schmuck, den ich auf Reisen trug, zwei aus Gold getriebene Blätter. Schon heute Morgen hatte ich meine ledernen Armschienen angelegt und meinen Köcher mit frischen Pfeilen bestückt. Mein Bogen hing an einer extra für ihn gefertigten Halterung am Rucksack. „Bereit?"

„Aber sowas von." Thalia schob die Hände unter die Tragegurte ihres Rucksacks und lächelte grimmig. „Ab hier führst du uns, Waldweise."

„Nicht allein." Ich nickte der Hexe zu. „Prinz Damian sagt, Ihr könnt uns zur Blüte navigieren?"

„Ich denke, ja", murmelte sie und trat auf mich zu. „Ich kann sie fühlen. Wie eine Ahnung. Mal stärker, mal schwächer."

„Gut. Mein Plan ist folgender: Ein paar Kilometer von hier fließt ein Fluss. Einer der größten im Arbor. Wir folgen ihm in nördlicher Richtung. Wenn Euer Sinn etwas anderes sagt, dann gebt Ihr mir Bescheid, verstanden?"

Die Dornen der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt