Kapitel 16.1: Katakomben

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Mera

Ich erwachte, wie ich eingeschlafen war: In Kores Armen.

Schwerfällig hob ich den Kopf von ihrer Schulter. Es war schon Tag, die Sonne schob sich gerade über die Bäume und die Vögel lagen in den letzten Zügen ihres Morgenkonzerts. Nebelfetzen lösten sich von den Pfützen am Boden und stiegen in Richtung Baumwipfel. Auch wenn es ganz nach einem heißen Tag aussah, war die Luft noch kalt auf meiner Nasenspitze und schwer vom Geruch nach feuchtem Waldboden. Ich schielte hoch zu Kores Gesicht. Ihre Augen waren offen, aber rot vor Müdigkeit. Sie schien sich in den vergangenen Stunden kaum bewegt zu haben, vielleicht aus Angst mich zu wecken.

Ich richtete mich auf und die Decke rutschte von meiner Schulter. Sofort strich mir ein Schwall kalter Luft über die Arme und ich fröstelte. Der Schmerz in meinem Fuß war noch da, doch es blieb ein leises Pochen. „Warum hast du mich nicht geweckt? Ich hätte auch mal Wache halten können."

„Du bist verletzt und brauchst Schlaf", sagte sie mit müder Stimme. Vorsichtig rückte sie von mir ab, schob mir eine zusammengerollte Decke als Stütze in den Nacken und kniete sich neben mich. „Ich sehe mir deinen Fuß an, ja? Dann suche ich uns was zu Essen."

„Was ist mit meinem Rucksack?"

„Der hat den Angriff nicht überlebt. Dein Kaffee bedauerlicher Weise auch nicht. Wir müssen sehen, was der Wald hergibt und uns meine Sachen einteilen, bis wir das Eldra-Tal erreichen."

Ich brummte nur. „Ist wenigstens noch Schokolade da?"

Kore schmunzelte und beugte sich über meinen Fuß. Nach ein paar gemurmelten Worten versiegte der Schmerz. „Da hinten ist ein Bach, wenn du dich waschen willst", sagte sie noch, bevor sie aus dem improvisierten Zelt verschwand. „Beeile dich, wir brechen so bald wie möglich auf."

„Zu Befehl, Herrin", murmelte ich und ächzte, als ich meine schmerzenden Muskeln zum Aufstehen zwang.

Kurz darauf half mir Kore auf den Rücken des Einhorns. Das Tier stand fast unnatürlich still, keine Spur nervös oder unruhig.

„Sie bittet dich, nicht an ihrer Mähne zu ziehen", sagte Kore und schulterte unseren Rucksack.

Ich lehnte mich an den Hals des Einhorns. Sein Fell war klatt und kühl unter meinen Fingern, wie Wasserseide. Als wir uns in Bewegung setzten, spürte ich die kräftigen Muskeln des Tiers, aber sein Gang war ruhig, fast als würde es über den Waldboden schweben. Kore ging neben mir, stumm, und so begannen wir unsere geisterhafte Prozession. Ein Einhorn und eine Hexe, verschmolzen mit den Farben des Waldes.

Anfangs war mir auf dem Rücken des Einhorns ein wenig mulmig zumute, aber ich gewöhnte mich schnell daran und nickte irgendwann sogar ein. Meine Träume waren seltsam, voll von Sonnenlicht, das sich in Wassertropfen brach, dem weichem, flaumigen Frühlingsgrün der Buchen und wisperndem Gras. Am Abend weckte mich Kore und half mir abzusteigen, bevor sie unser Lager baute und eine Suppe aus Wilder Kartoffel, Kräutern und Pilzen kochte. Es schmeckte nichtmal schlecht. Danach bot ich an, die erste Wache zu halten, doch wir stellten bald fest, dass mit dem Einhorn um uns herum zusätzliche Bewachung nicht nötig war. Kein böses Wesen kam auch nur in unsere Nähe, solange es bei uns war. Dafür wurden plötzlich andere angezogen. Weiß leuchtende Schmetterlinge am Tag und Glühwürmchen in der Nacht. Es gab nur ein Wort, mit denen ich sie beschreiben konnte: Magisch.

Selbst als mein Fuß endlich wieder heil war, wich das Einhorn nicht von Kores Seite. Manchmal beobachtete ich die beiden, wenn Kore ihm eine frische Knospe verfütterte und leise in einer fremden Sprache mit ihm sprach wie mit einem alten Freund. Ihre Gespräche wirkten vertraut, aber auch traurig. Es war dieselbe tiefe Traurigkeit, die ich auch in den schönen Augen des Tiers las. Als sähe es Dinge, die keiner von uns Menschen wahrnahm. Ab und an übermannte auch mich die Trauer. Um Thalia und die beiden Soldaten. Sie waren etwa in meinem Alter gewesen und ich konnte noch immer nicht akzeptieren, dass sie tot sein sollten. Weg. Einfach aus der Welt getilgt, überwuchert vom erstickenden Grün des Waldes, der sich gerade so friedlich zeigte.

Die Dornen der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt