Prolog (2)

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Er nahm Thalia die Fackel ab und begann den Abstieg. Welke Blütenblätter zerbröselten unter seinen Stiefeln und das leise Knistern allein reichte, um ihm eine Gänsehaut über die Unterarme zu jagen. Schon nach wenigen Schritten umgab ihn völlige Finsternis. Die Fackel in seiner Hand warf Licht auf die Stufen zu seinen Füßen, doch weiter konnte sie die Dunkelheit nicht durchdringen. Theoretisch wusste Damian, wo die Treppe hinführte, denn er war den Weg bereits in seiner Vision gegangen. Neu dazu kamen allerdings die anderen Sinneseindrücke.

Aus Erfahrung hatte er angenommen, die Gänge unter der Erde würden modrig und feucht sein, wie in einem Keller. Stattdessen waren sie so trocken, als befänden sie sich in einer Bibliothek. Und genauso still. Kein Zirpen von Grillen und Zikaden mehr. Das einzige, was die Ruhe störte, waren seine eigenen Schritte. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, schmeckte die leiseste Andeutung von Salz. Vielleicht lag er in der trockenen Luft, vielleicht war es aber auch nur sein eigener Angstschweiß.

Dann hörte die Treppe plötzlich auf. Im selben Augenblick entzündete sich eine Reihe blauer Flammen an den Wänden rings herum.

Thalia machte einen Satz zurück. Selbst Damian, der es hätte wissen müssen, spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Seine Hand war schwitzig. Er senkte den Arm mit der Fackel, reichte sie an Thalia weiter und trat von der letzten Stufe.

Vor ihm lag eine Kammer. Das bläuliche Feuer tauchte den Raum in schummriges Licht, trüb, als befänden sie sich unter Wasser. Feiner Sand bedeckte den Boden, was den Eindruck noch verstärkte. Die Wände waren kahl, ohne jeden Schmuck, nur von schlichten Säulen getragen. Und um die Säulen rankten sich-

„Dornen?" Thalia ging auf eine Säule zu und streckte die Hand aus. Ihre Finger strichen leicht über einen jungen Ausläufer der Ranken. Die Dornen waren noch nicht ausgehärtet und bogen sich unter ihrer Berührung.

„Spina Spiritum", murmelte Damian. Es gab im ganzen Reich nur eine Pflanze, die armdicke Ranken und Dornen scharf wie Schlangenzähne hervorbrachte. „Der Hexendorn."

Thalias Hand schnellte zurück als hätte sie sich verbrannt. „Wie kann sie hier unten wachsen? Ohne Licht?"

„Das ist nicht das größte Rätsel dieser Kammer." Sein Blick wanderte zur Mitte des Raums. Er stand genau im Zentrum, wie in seinem Traum.

Ein Sarkophag.

Die Dornen wuchsen darauf zu, schlängelten sich von den Säulen herab, krallten sich in den Sandboden und zogen sich die Seiten des offenen Sarkophags empor, um in seinem Inneren zu verschwinden. Denn das war das gruseligste Detail dieser Szene: Der Deckel fehlte.

Damian umklammerte den Griff seines Schwertes. Langsam näherte er sich dem Sarg, stieg über verholzte Ranken und Dornen, die sich in seiner Hose verhakten. Der Sand dämpfte seine Schritte, aber sein Herz pochte so laut, dass er glaubte, jeder im Umkreis müsste es hören. Als er nahe genug war, um über die Kante ins Innere zu sehen, stockte er. Ornamente zierten die äußeren Seiten des Sarkophags. Eine riesige Schlange, deren Schuppen so lebensecht aus dem Stein gemeißelt waren, dass sie im Licht der Flammen schimmerten. Dazu Soldaten mit Schwertern und Speeren, ein Phönix und geflügelte Menschen. Es war ein Schlachtbild. Damian holte schaudernd Luft. Hinter ihm zog Thalia ihre Klinge. Das Sirren den Stahls echote von den Wänden, als er sich vorbeugte.

Und da war sie. Eine Frau, gebettet in ihren steinernen Sarg, umrankt von Dornen.

Die Hexe.

Sein Traum war kein Traum.

„Was ist das hier?" Er konnte die Angst in Thalias Stimme hören. Das Unbehagen, mit etwas konfrontiert zu sein, das Schwerter womöglich nicht besiegen würden. Ob sich so auch sein Vater gefühlt hatte, damals, als die Magie außer Kontrolle geraten war? Gefangen in einem wahr gewordenen Albtraum? „Ist das...eine Gruft?"

„Nein", sagte Damian sanft. „Eine Gruft ist für Tote."

Sein Blick ruhte auf der schlafenden Frau vor ihm. Sie trug keine Tunika, keine Sandalen und auch keine Palla, die sie als Dame von hohem Status gekennzeichnet hätte. Stattdessen war sie in ein langes weißes Kleid im Stil des Nordens gehüllt. Der zarte Stoff erinnerte ihn auf unheimliche Weise an verwobenen Nebel, ein scharfer Kontrast zum dunklen Stein und den spitzen Ranken um sie herum. Doch wirklich in den Bann zog ihn ihr Gesicht. Es war blass wie Marmor und so makellos, als hätte es ein Bildhauer aus genau diesem gearbeitet. Das blaue Flackern der Flammen lief über ihre hohe Stirn, spiegelte sich in der langen, geraden Nase, färbte ihre Lippen in einem kühlen Ton und warf ihr hohle Schatten unter die Wangen. Ihre Kieferknochen waren etwas zu scharf, ihre Augenbrauen zu streng und buschig, um der aktuellen Mode im Süden zu entsprechen, aber für Damian bestand kein Zweifel, dass sie schön war. Etwas an ihr verlangte geradezu, dass man sie ansah. Mit Respekt, vielleicht sogar Ehrfurcht. Goldblonde Wellen umrahmten ihr Gesicht, flossen bis zu ihren Ellbogen, als seien sie gerade eben erst frisch gekämmt, gelockt und sorgfältig neben sie drapiert worden. Ihre Hände waren über dem Bauch gefaltet und gefesselt.

„Das ist keine Gruft", murmelte er. „Das ist ein Gefängnis."

Bei genauem Hinsehen erkannte er, dass die Fesseln an ihren Handgelenken nicht aus Seilen, sondern aus Dornenranken bestanden. Sie flochten sich durch ihre Haut und bohrten sich ins Fleisch, als seien sie mit ihm verwachsen. Trotzdem schien sie keine Schmerzen zu haben. Ihr Gesicht wirkte entspannt und reglos, ihre Augen geschlossen.

Keine der vielen Dornenranken um sie herum trug Blüten. Natürlich nicht. Die Spina Spiritum hatte seit siebzehn Jahren nicht mehr geblüht. Bis jetzt.

Wecke die Hexe. Finde die Blüte. Und ihr werdet gerettet werden. Du wirst gerettet werden.

Damian trat an die Seite des Sarkophags und legte eine Hand auf den steinernen Rand. Wie alt war die Frau? Irgendwo zwischen dreißig und vierzig? Schwer zu sagen. Es war eine unbedeutende Frage, verglichen mit den anderen. Wer hatte diese Kammer gebaut? Warum war die Hexe hier und nicht im Kerker? Warum lebte sie noch?

Vielleicht würde es bald eine Zeit für all seine Fragen geben. Aber erst einmal musste er handeln. Gottes Willen nur zu befolgen, wenn man ihn verstand, war schließlich kein echter Glaube.

Oder?

„Halte dich bereit", raunte er, ohne sich zu Thalia umzudrehen. Dann neigte er sich noch ein Stück vor und legte die Hand auf die Wange der Frau. Ihre Haut war kühl und ebenmäßig wie der Marmor des Blütenrelievs. Damian ließ all die Autorität des Kronprinzen in seine Stimme fließen, als er sprach, was Gott befohlen hatte: „Die Zeit ist erfüllt." Seine Kehle fühlte sich an wie mit Sand belegt. „Erwache, Tochter!"

Ein Windstoß blies durch die Kammer, ließ die blauen Flammen flackern. Die dürren Spina-Ranken raschelten im Luftzug und Staub wirbelte auf seine Stiefel. Gleichzeitig drang aus der Mauer vor ihm ein leises Wimmern.

Damian riss den Kopf hoch. An der Wand hinter dem Sarkophag war die Andeutung eines Torbogens erkennbar. Vorher hatte er nicht darauf geachtet, doch jetzt sah er die sternengesäumten Umrisse. Es gab keine sichtbare Tür. Keinen Griff, kein Schlüsselloch. Nur massiven Stein.

Die Zeit ist erfüllt, wisperte der Wind durch die Kammer, eine wilde Freude in den Worten. Die Zeit ist erfüllt.

Damians Finger begannen zu kribbeln. Er senke den Blick, als plötzlich Hitze von der Haut der Frau in seine Handfläche stieg. Sie wanderte seine Wirbelsäule entlang, kribbelte über seine Kopfhaut. Am liebsten hätte er sich geschüttelt, so schaurig war das Gefühl, aber er konnte die Augen nicht von der Hexe abwenden. Die bläuliche Färbung ihrer Lippen verblasste, wie sich Tinte in Wasser löste. Im Kontrast dazu nahmen ihre Wangen einen zarten Pfirsichton an, wurden voller. Bei dem Anblick beschleunigte sich sein Puls noch mehr. Sein Herz hämmerte jetzt gegen seinen Brustkorb, als wollte es sich gewaltsam befreien. Selbst fliehen, wenn Damian es schon nicht tat.

So etwas hatte er noch nie gesehen. Das konnte nicht sein. Es war...es war, als bließe ihr der Wind neuen Atem ein. Weckte sie.

Die Luft um den Sarkophag flirrte, wie die Staßen Thisbes im Sommer. Dann spürte er auf einmal etwas unter seinen Fingern. Ein sanftes, stetiges Pochen. Da war ein zweiter Herzschlag, zusätzlich zu seinem rasenden. Ein fremder Puls am Hals der Frau. Erschrocken zog Damian seine Hand zurück.

Und die Hexe schlug die Augen auf.

Die Dornen der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt