Epilog

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Der Herr der Welt sah hinab auf seine Stadt und genoss das Chaos.

Er konnte menschliches Leid auf Kilometer Entfernung spüren. Wie ein Tier das Blut witterte. Misstrauen, Stolz, Hass. Thisbe hatte so viel davon, vor allem, seit er die neue Welle der Hexenverfolgung angeordnet hatte. Es musste in diesen Straßen noch immer Anhängerinnen des alten Kultes geben und er würde sie finden. Alle.

Testweise bewegte er einen Finger. Sein neuer Körper war noch ungewohnt, aber jetzt schon angenehmer als der des Ratsherrn. So angenehm eine schmerzende, an Tod, Verfall und hundert Naturgesetzte gebundene menschliche Haut eben sein konnte. Nicht mehr lange, dann würde er alle Hüllen fallen lassen. Wenn die Menschen in ihrem beschränkten Verstand erst bereit waren, ihn als ihren göttlichen Herrscher zu akzeptieren, würde keine lästige Verkleidung mehr nötig sein. Dann würde er herrschen, in seiner wahren Gestalt, wie es einem Gott gebührte.

Er steuerte König Damians Füße durch den ummauerten Garten und die Stufen hinab in die steinerne Gruft. Neben dem leeren Sarg der Hexe ließ er ihn zurück, streifte den Menschen ab, wie einen Mantel.

Ihr konnte er nicht verkleidet gegenübertreten.

Dann legte er die Hand auf ein weiteres steinernes Blütenornament. Eine verborgene Tür öffnete sich an der Rückwand der Kammer. Er durchschritt sie und stieg weiter hinab, Stufe um Stufe in ein zweites, noch tieferes Verließ. Spina-Ranken überwucherten den Boden, zogen sich die grob behauenen Felswände hinauf. In dieser Kammer gab es keine Fackeln - er legte Wert auf Finsternis- aber trotzdem war sie von einem schwachen weißen Licht erhellt. Seine Quelle hing an der Wand gegenüber:

Eine Frau. Zumindest auf den ersten Blick.

Ihre Arme waren zu beiden Seiten ausgestreckt und mit Dornen an den Fels gekettet. Die nackten Füßen berührten kaum den Boden und so hing sie mehr in ihren Fesseln als dass sie stand. Langes schwarzes Haar verdeckte ihr Gesicht. Ihr Kopf war nach vorn geneigt, sodass die Strähnen bis knapp über die Erde fielen. Es schien, als würde sie trotz der mehr als unbequemen Position schlafen.

Natürlich tat sie das nicht. Schlaf war eine Gnade, die nur den Sterblichen zuteil wurde. Sie hingegen musste jede Sekunde ihres Opfers bei vollem Bewusstsein durchleiden. In ihrer himmlischen Gestalt hatten Geistwesen keinen Leib, der Schmerz empfinden konnte. Sobald sie länger in der materiellen Welt weilten, hatten aber auch sie mit gewissen Beschränkungen zu leben. Sie mussten ihre Macht verbergen, auf menschenverstandsgröße schrumpfen, sonst ertrugen die Sterblichen ihren Anblick gar nicht. Und in diesem Zustand konnten sich selbst die Paraklet gegenseitig quälen. Er hatte wenig Interesse daran. Körperlicher Schmerz war endlich, seelischer nicht. Und daran litt sie. Einsamkeit, Verlassenheit. Getrennt sein, von allem, was sie liebte.

Das Martyrium einer Unsterblichen.

Nichts davon hätte so kommen müssen.

Er hatte sogar ihre Akolytin in die Kammer direkt nebenan gelegt. Nur Meter von ihr entfernt und trotzdem unerreichbar, weil er gehofft hatte, wenigstens diese Qual würde endlich ihren Willen brechen. Ihren Widerstand. Aber auch Grausamkeit war nicht weitergekommen, wo zuvor schon Verführung gescheitert war.

Langsam trat er auf sie zu. Noch immer, nach all den Jahren, ging ein schwacher Lichtschein von ihr aus. Selbst hier in der absoluten Finsternis. Eigentlich war er gekommen, um sie für ihre gescheiterte Intrige zu verspotten. Aber wie immer in ihrer Nähe war er gegen seinen Willen fasziniert von ihr. Es sollte ihn nicht wundern. Sie waren gemeinsam ins Leben gerufen worden, zwei Kreaturen gleichen Wesens. Nirgendwo außer in ihr, fand er auch nur ansatzweise eine Entsprechung. Selbst die anderen Paraklet waren ihnen unterlegen, an Stärke, Schönheit, Intellekt. Vor allem an letzterem.

Die Dornen der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt