Kapitel 1.1: Die Hallen der Hexen

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Mera

Einige Wochen zuvor

Bei Morgengrauen kamen sie mich holen.
Sie waren zu dritt, eine ernster als die andere, gekleidet in geisterhaftes Weiß, ihre Schleier zart wie die Nebelfetzen, die das Sonnenlicht aus den Lorbeerwäldern im umliegenden Berghang löste. Lautlos huschten sie um mich herum, scheuchten mich aus den Bettlaken und in ein marmornes Becken, das an mein Schlafzimmer grenzte.
Wasser plätscherte. Dampfwolken stiegen auf, woben sich in die Rauchkringel frisch entzündeter Räucherstäbchen. Ein paar Fläschchen klickten leise, als sie geöffnet und begutachtet wurden. Aus dem Nebenraum drang verhaltenes Wispern.
Lotus? Ein Kopfschütteln.
Pfirsich? Nein, zu sehr wie Kore. Sie ist nicht gut auf ihre Mutter zu sprechen.
Zimt? Ein bisschen zu exotisch für eine Nordländerin, findest du nicht?
Gebt ihr doch Kräuter, die erinnern sie an den Wald.

Neue Gerüche mischten sich mit dem cremigen Duft des Badewassers. Zitrone, Minze und Rosmarin.
Ich nahm einen tiefen Atemzug und starrte auf den roten Streifen Sonnenaufgang vor meinem Fenster. Fein verästelte Akazienzweige verdeckten die Aussicht wie ein kunstvoll gewobener Vorhang. In den stabileren Ästen erwachten langsam die Vögel. Wären wir im Arbor, hätte mich ihr Zwitschern lächeln lassen. Hier klang es, als lästerte selbst die Natur über mich.
Im Nebenraum redeten die Hexen leise weiter. Über mich, nicht mit mir. Den ganzen Morgen hatten sie kaum ein Wort mit mir gewechselt. Ich fragte mich, warum. Ehrfurcht, weil ich das Kind ihrer Akolytin war? Oder Abscheu, aus dem selben Grund?
Es konnte nicht leicht für sie sein, eine Fleisch und Blut gewordene Sünde gegen ihre Heilige in Seide zu kleiden und mit kostbaren Ölen zu salben.
Dunkle Gedanken waberten durch meinen Kopf, während ich im heißen Bad vor mich hin weichte. Vermutlich war ich ungerecht. Die Magierinnen hatten sich mir gegenüber nie offen feindselig gezeigt. Im Gegenteil. Vielleicht waren die Mädchen einfach scheu. Vielleicht war es auch die rituelle Vorschrift, für das was vor mir lag. Genau wie das Bad, die Kleidung, die Worte. Was wusste ich schon?
Mit zusammengepressten Lippen schnickte ich Stückchen von Zimtrinde und Rosenblüten durch das milchige Wasser.
Das Problem war, ich hatte nie irgendwo dazugehört. Der Kult um Lux schloss Waldweisen und ihre Familien aus. Als die anderen Kinder ihre erste Opferung gefeiert hatten, war ich in der letzten Reihe unseres Tempels gesessen und hatte zugeschaut. Selbst in der Schule hatten sie mich gemieden, Lehrer wie Schüler. Ich erinnerte mich noch an die Blicke. Misstrauisch, als erwarteten sie, dass mir jeden Moment die Ranken des Arbor aus dem Mund wuchern und sie verschlingen würden. Sogar in die Waldwacht war ich bisher nicht offiziell eingeführt worden.
Mein Leben, mehr noch als das meines Vaters, hatte sich immer an den Rändern abgespielt. Ich führte Menschen sicher durch den Wald, von einer Station ihrer Biografie zur nächsten, von Hochzeiten zu Beerdigungen, ohne jemals etwas für mich selbst zu erträumen. Ich war eine Nebenfigur in den Episoden ihres Lebens. Ein grüner Umhang ohne Persönlichkeit, der seinen Dienst tat. Eine Soldatin des Waldes.
Nun, zum ersten mal, versammelten sich Menschen nicht mit mir, nicht trotz mir, sondern wegen mir.
Seufzend gab ich mir einen Ruck und stieg aus dem Becken. Wasser tropfte in Rinnsalen zum Marmorboden, über den die aufgehende Sonne schattenhafte Mosaike aus eng verästelten Akazienzweigen zeichnete.
Ich holte Luft. „Ihr könnt jetzt reinkommen."
Hoffentlich würde es schnell vorbei sein.


Schon das Kleid erstickte mich fast. Zuerst kam die schlichte weiße Tunika. Dann hüllten sie mich in meterlange Seidenbahnen, strahlend , gesäumt von Perlenstickereien und winzigen Silbersternen. Meine Haare steckten sie mit Nadeln aus einer samtverkleideten Holzschatulle hoch, bis es aussah, als trüge ich ein sternenbesetztes Diadem. Sicher waren es Erbstücke früherer Hexen. Mit dem Zeigefinger fuhr ich die Furchen im dunklen Walnussholz der Schatulle nach, suchte ein Monogramm.
„Sie gehören deiner Mutter", wisperte eine der Hexen, während sie mir Zitronenöl hinter die Ohrläppchen tupfte.
Ich schauderte, trotz der Massen an Stoff um meinen Körper.
Als meine Füße in silbernen Sandalen steckten, machten wir uns auf den Weg ins Heiligtum. Mit jedem Schritt hörte ich die schwere Schleppe hinter mir über den Boden schleifen, fühlte das Gewicht des Silbers in meinem Haar, die Nadeln, die mir in die Kopfhaut stachen. Noch nie in meinem Leben war ich schöner gekleidet gewesen.
Und noch nie in meinem Leben hatte ich mich weniger so gefühlt. Ich kam mir kleiner vor, kaum noch wie ich selbst. Als sei der Kern von allem, was mich ausmachte verschwunden. Begraben, erstickt von dutzenden Schichten aus bestickter Seide. Niedergedrückt vom Gewicht des Silbers und Goldes. Vom Gewicht dessen, was vor mir lag.
Am Eingang zu Anankes Heiligtum hielt unsere kleine Prozession inne. Vor uns erstreckten sich die langen Reihen steinerner Säulenbäume unter sternblütenbesetzten Kronen aus Stuck und Silber. Echte Kletterblumen rankten sich um ihre Stämme. Sie wucherten aus einem Ring blanker Erde, der jede Säule umschloss. Ein bisschen ähnelten sie der Spina, nur kleiner, weniger leuchtend.
Trotzdem, anders als im Tempel von Thisbe war es hier nicht dunkel. Riesige Fenster mit geschliffenem Kristallglas ließen das Sonnenlicht in den Raum und fächerten es in bunten Prismen über den Marmorboden. Die Luft war übersättigt von Weihrauch. Seine dichten Schwaden brauchen die Sonnenstrahlen, was den Eindruck machte, als würden die anwesenden Hexen in weißen Lichtsäulen stehen. Angestrahlt von einem göttlichen Schein. Selbst in den schattigen Altarnischen entlang der Wände, wo besonders verehrte Hexen der Geschichte ihre Statuen hatten, hingen Lichter. Silberne tränenförmige Laternen, jede ein Kunstwerk für sich.
Wir schritten die Reihen berühmter Ahninnen entlang, von einer ernsten Frau aus Marmor zur nächsten und ich fühlte mich, als würden mich die herrschaftlichen Gesichter beurteilen. Verurteilen, weil  jede der Frauen eine Lichtgestalt und ich der schwarze Fleck ihrer Geschichte war. Ein Mädchen, das nach ihren Regeln gar nicht hier sein dürfte.                                                       

Die Dornen der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt