Damian
Er war sich sicher, in der Hölle zu sein.
Wenn dieser mysteriöse Ort oder Zustand überhaupt existierte, dann war er das, was er gerade erlebte.
Wobei? Erlebte er es wirklich? Lebte er überhaupt noch? Wer war er? Was war-
Ah. Zu viele Gedanken. Die Dunkelheit vernebelte seinen Kopf.
Welcher Kopf?
Er hatte keine Ahnung. Er hatte von gar nichts mehr Ahnung.
Um ihn herum war nichts als Dunkelheit. Wabernde, endlose, zeitlose Dunkelheit. Das fühlende Wesen, das er war, dämmerte dahin, von einer Finsternis zur nächsten. Oder immer in der selben. Was spielte es auch für eine Rolle? Wenn er schrie, gab es kein Echo, keine Luft, die seinen Schall transportieren konnte. Sein Gefängnis war absolut. Ein blinder Spiegel. Ein fensterloser Raum. Nur, dass er nicht mehr wusste, ob dieser Raum nicht vielleicht die ganze Welt war. Es raubte ihm alles, jede Erinnerung an etwas außerhalb von Schwärze und Einsamkeit. Und, oh, die Einsamkeit. Nichtmal seine eigene Berührung spürte er, geschweige denn die eines anderen.
Er war verloren in der Finsternis. Er war einsam. So schrecklich einsam.
Bis er es nicht mehr war.
In seinem Kerker existierte keine Zeit, also wusste er nicht, wann die Veränderung begonnen hatte. Sie war plötzlich einfach da. Ein Lichtstrahl fiel durch die Dunkelheit. Ein Fenster tat sich auf inmitten seines Gefängnisses. Und dahinter sah er etwas.
Jemanden. Ein Gesicht. Ein Gesicht, das er kannte. Der Name hallte durch seinen leeren Geist, wie ein längst verklungener Schall, den eine Felswand unerwartet als Echo zurückwarf.
Veronika.
Er versuchte, es auszusprechen und stellte auf diese Weise fest, dass er Lippen hatte. Versiegelte Lippen, die nicht mehr ihm gehörten. Er wollte sich auf sie zubewegen, spüre plötzlich Beine und Arme. Eine Hand, die sich um Veronikas Kehle geschlossen hatte. Seine Hand.
Aber er wollte das nicht. Wollte ihr nicht wehtun. Warum tat er es dann? Seine Hand gehorchte ihm nicht. Er konnte sie nicht steuern. Verzweifelt sah er zu Veronika auf. Ihre Lippen formten ein Wort. Es drang zu ihm wie durch Wasser oder Watte. „Damian."
Damian.
Das war sein Name.
Das war er.
Er war jemand.
Er war Damian.
Unter ihm leuchtete auf einmal etwas. Eine Art heller Fleck. Damian löste sich von Veronikas Anblick und tauchte hinab durch die Dunkelheit, tiefer in sein Inneres. Der helle Fleck wurde größer, zu einer Pfütze, einem Teich. Kopfüber sprang er in die lichtdurchfluteten Wogen.
Wärme hüllte ihn ein. Angenehme Wärme, Gefühle, die er vergessen geglaubt hatte. Silberne Fetzen wirbelten um ihn, Erinnerungen aus Geruch, Bild, Gefühl, Geräusch. Da war eine Amme, die ihn als Fünfjährigen durch einen Gang jagte, fluchend, während er übersprudelte vor Lachen. Er hörte das Klirren von Schwertern, spürte den Stolz seines Lehrers, als er zum ersten Mal im Duell gegen den Schwertmeister gewann. Er schmeckte Salz auf den Lippen, fühlte kühlen Wind im Haar, endlose Freiheit wie auf seiner ersten Bootsfahrt, seiner ersten Bergwanderung. Er schmeckte Pfirsichwein, hörte Thalias Stimme und das Lachen der Soldaten mit denen er seine Grundausbildung absolviert hatte und die für ihn wie Brüder waren. Er spürte die Hand von Claudius auf der Schulter, eine stolze, ermutigende Geste. Sah seinen Vater, sterbend im Bett, die Worte vergib mir auf den Lippen. Er sah Meras Gesicht, ihre brauen Locken und Sommersprossen, das Wogen von mächtigen Bäumen, die Kühle des Schwiegermutterspiegels, während sie und er gleichzeitig ihre Stirn gegen das Glas lehnten. Dann roch er Rosmarin und Lavendel, sah Veronikas Gesicht, ihr Lächeln. Damian, sagte sie. Mein Junge.
Die anderen stimmten mit ein, Claudius, Thalia, sein Vater, Mera. Damian, sagten sie wie im Chor, wieder und wieder, bis sein Name zum Herzschlag wurde. Er spürte ihn in seinem Inneren pulsieren, spürte wie das Licht anschwoll, spürte sein Herz pochen.
Er fühlte wieder.
Dachte, wusste, wollte.
Das hier war sein Herz. Sein Zentrum. Sein Kern. Seine Seele. Der Ort, den keine Dunkelheit jemals betreten konnte. Weil hier lebendig war, was sie nie verstehen würde.
Es war schwer alles zu beschreiben, das er in diesem Moment erlebte und er tastete nach dem einzigen Wort, was dem ansatzweise gerecht wurde. Liebe.
Ich bin. Ich bin Damian. Und ich bin nicht allein.
Umgeben von Licht stieg er aus dem Teich, kämpfte sich durch die Dunkelheit hinauf und nahm eine Spur des Lichts mit sich. Es fuhr in seine Arme, jeden seiner Finger. Er griff durch das Fenster seines Kerkers hinaus in die Realität, übernahm die Kontrolle. Ließ Veronika los und riss die Blüte aus ihrer kraftlosen Hand.
Die Spina.
Auf einmal waren alle Erinnerungen wieder da. Die Dürre, der Arbor, die Flucht in die Wüste, der Tod seines Vaters, die Krönung. Das Opfer. Thanatos, der sich als Lux ausgegeben und ihn besetzt hatte.
Das war sie. Die Blüte, die er suchen sollte. Wie hatte die Stimme gesagt? Sie wird dich retten.
Aus einem Instinkt heraus stopfte er sich die Blüte in den Mund. Kaute, schluckte. Ein Geschmack wie Honigmilch und cremige Schokolade breitete sich auf seiner Zunge aus. Nein, besser, wie reife Nektarinen, Feigen, Wein und klares, kaltes Wasser, alles zugleich. Wellen aus blendend weißem Licht spülten durch seinen Körper, halfen dem silbrigen Licht in seinem Innern, vertrieben die Finsternis. Er lachte, als er die Kontrolle über seinen Körper zurückbekam. Lachte, als das Licht die Dunkelheit zusammentrieb, zu einer winzigen schwarzen Kugel.
Dann spürte er Zorn in sich. Thanatos hatte kein Recht auf ihn. Weder auf seinen Körper, noch auf seinen Geist. Mit inneren Händen packte er den schwarzen Ball aus Finsternis. Schleuderte ihn dem Fenster aus Licht entgegen, hinter dem Veronika wieder zu Atem gekommen war.
Weiche, dachte er und dann schrie er es nach draußen, mit einer Stimme, die wieder ihm gehörte:
„WEICHE!"

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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...