Kapitel 4.1: Mutter

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Mera

Hatten wir geglaubt, unsere Abwesenheit würde niemandem im verborgenen Tal auffallen?

Ja.    

Lagen wir verdammt falsch damit?

Leider auch ja.

Wir hatten uns gerade die Stufen vom Strand hinauf gequält, Damian stützte die leicht humpelnde Veronika, und das Hauptgebäude betreten, als sie uns schon entgegen kamen. 

Die erste war Hypatia, ein paar Magierwächterinnen mit Laternen an ihrer Seite. „Ich habe sie gefunden! Sie sind hier!", rief sie über ihre Schulter, bevor sie sich mit wütender Miene uns zuwandte. Hypatia trug nur eine Leinentunika zum Schlafen und hatte sich einen seidenen Schal um die Arme geschlungen. Offenbar war unser Fehlen an irgendeiner Stelle aufgefallen und hatte die Verantwortlichen im Heiligtum aus dem Schlaf getrommelt. Sie funkelte uns an. „Ich verlange eine Erklärung für das hier!" Ihr Blick wanderte über jeden von uns, blieb an Veronikas blutiger Tunika hängen. „Ihr seid verletzt."

Veronika lächelte gequält, noch immer auf Damian gestützt. „Nur ein Kratzer."

„Weckt eine Heilerin", raunte Hypatia der Magierin neben ihr zu, „Am besten Pasiphä, sie soll sich das anschauen." Zu Veronika sagte sie: „Die Mädchen werden Euch auf Euer Zimmer bringen." Als wir ihr klammheimlich folgen wollten, hielt sie Thalia an der Schulter zurück. „Nicht so schnell, ihr beide."

Mist. So einfach wurde es anscheinend doch nicht.

Hypatia sah zwischen mir und Thalia hin und her. Damian schien sie noch gar nicht wahrzunehmen, oder sie ignorierte ihn bewusst. „Schlimm genug, dass ihr unser Boot anheuert, ohne irgendjemandem etwas zu sagen", begann sie, mit vor Zorn zusammengebissenen Zähnen, „Ihr widersetzt euch auch noch der Akolytin!"

Wie aufs Stichwort hörten wir Schritte im Gang vor uns. Kore eilte auf uns zu. Im Gegensatz zu Hypatia war sie noch vollständig angezogen und frisiert. Scheinbar hatte sie bis in die Nacht gearbeitet. „Mera?" Ihre Augen wurden weit. „Was ist passiert? Wo wart ihr?"

„Deine Tochter", begann Hypatia und verschränkte die Arme, „hat zusammen mit meiner Tochter und gegen deinen Befehl-"

„Strenggenommen war es gar kein Befehl", unterbrach sie Thalia. „Ihr habt nur beschlossen, selbst nichts zu tun. Da war kein explizites Verbot, dass wir die Sache nicht selbst in die Hand nehmen dürfen." Hypatia brachte sie mit einem vernichtenden Blick zum Schweigen. Rasch senkte Thalia den Kopf, um wenigstens so zu tun, als würde sie zerknirscht aussehen.

Kore wirkte verwirrt. „Was habt ihr getan?"

„Sie haben mich gerettet." Damian schob sich an uns vorbei, bis er aufrecht vor Kore stand. „Unter Gefahr ihres eigenen Lebens haben sie mir die Spina-Blüte gebracht, mit deren Magie ich mich von Thantos befreien konnte. Ihnen gebührt Lob, keine Strafe."

„Prinz Damian", sagte Kore, die ihn offensichtlich erkannte. „Oder sollte ich besser sagen: König Damian. Ihr habt Euch verändert, seit unserem letzten Treffen."

„Das gleiche könnte ich über Euch sagen, Hexe", konterte er, „Oder besser: Akolytin Kore?"

Über Kores Mundwinkel zuckte ein Lächen. „Ich verstehe, was Mera an Euch mag."

Damian warf  mir einen Blick zu und ziemlich sicher waren meine Wange in dem Moment feuerrot. Ich konnte nur hoffen, dass es zu dunkel war oder er es der Anstrengung der letzten Stunden zuschrieb.

„Was ihr getan habt, war sehr mutig", sagte Kore zu Thalia und mir.

Hypatia brummte. „Eher dumm, wenn du mich fragst."

Die Dornen der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt