Kapitel 22

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Die Luft im Inneren der Bank war stickig, und obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief, fühlte sich jeder Atemzug schwer an. Ich stand vor dem Tresorraum und wartete darauf, dass der Bankangestellte mir endlich Zugang zum Schließfach meines Bruders gewährte. Mein Herz raste. Mein Bruder hatte mir in dem Brief nur knapp von diesem Schließfach erzählt – als wäre es nur eine Randbemerkung, etwas, das ich nicht allzu ernst nehmen sollte.

Der Bankangestellte, ein kleiner, graumelierter Mann mit dünnem Haar und einer dicken Brille, führte mich durch den Gang zu den Schließfächern. Seine Schritte waren leise, fast lautlos auf dem polierten Marmorboden. Die Wände des Raumes wirkten kalt, kahl – und doch hatte ich das Gefühl, als würde jede Zelle in meinem Körper unter Spannung stehen. Was würde ich hier finden? Einen letzten Brief von ihm ? Oder vielleicht etwas, das endlich Licht in all die Lügen und Geheimnisse bringen würde?

"Hier ist es, Miss," sagte der Angestellte, als er vor einem der vielen Schließfächer stehen blieb und den Schlüssel aus seinem Sakko zog. "Nummer 107. Bitte, nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen."

Er schloss das Fach auf und trat respektvoll einen Schritt zurück, bevor er den Raum verließ. Nun stand ich allein in dem kühlen, stillen Tresorraum und starrte das Schließfach an, als wäre es eine Bombe, die jeden Moment explodieren könnte.

Langsam öffnete ich das Fach und zog eine kleine Metallkassette heraus. Sie war schwerer, als ich erwartet hatte, und für einen Moment zögerte ich, bevor ich den Deckel anhob.

Ich hielt die Luft an, als ich sah, was sich darin befand: Ein Umschlag, einige Papiere und... eine Pistole. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Die Pistole lag kalt und bedrohlich auf dem Boden der Box, als würde sie mir etwas sagen wollen. Aber es waren die Papiere, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen.

Ich griff nach dem Umschlag und öffnete ihn mit zitternden Fingern. Darin befand sich ein handgeschriebener Brief von meinem Bruder. Seine Handschrift war schräg und unordentlich, wie immer, wenn er unter Druck stand.

_"Izzy,"_ begann der Brief, und ich konnte seine Stimme fast hören, als ob er neben mir stünde.

_"Wenn du das hier liest, bedeutet es, dass ich entweder tot bin oder gezwungen wurde zu verschwinden. In beiden Fällen ist das hier mein letzter Versuch, dir alles zu erklären. Ich habe dich nie in diese Welt ziehen wollen, aber manchmal hat man keine Wahl. In der Kassette findest du nicht nur meine Pistole, sondern auch die Schlüssel zu allem, was passiert ist – und was noch passieren wird."_

Ich schluckte schwer und las weiter.

_"Die Leute, die uns umgeben, sind nicht mehr dieselben. Es gibt Verrat in unserer Mitte, und es war unmöglich, zu wissen, wem ich noch trauen kann. Deshalb musste ich gehen. Ich habe Hinweise gefunden, dass jemand aus unserer eigenen Crew mit einer rivalisierenden Gang zusammenarbeitet. Ich war kurz davor, herauszufinden, wer es war, aber ich habe gespürt, dass sie mir auf den Fersen waren. Ich konnte dich nicht in Gefahr bringen, also musste ich verschwinden. Aber jetzt, Izzy, ist es an dir, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Du bist die Einzige, der ich noch vertrauen kann."_

Meine Hände zitterten, als ich den Brief zu Ende las. Ich spürte einen kalten Schauer über meinen Rücken laufen. Er hatte also nicht nur unsere Rivalen im Visier gehabt, sondern auch Leute aus unserer eigenen Crew. Mein Verstand raste. Wer könnte das sein? Wer könnte so tief verstrickt sein, dass er gezwungen war, zu fliehen, um sein Leben zu retten? Und ihm am Ende doch das Leben Kostete.

Aber der Brief war noch nicht zu Ende.

_"Im Umschlag findest du auch den Zugang zu einem zweiten Schließfach in einer anderen Stadt. Es ist das letzte Stück des Puzzles. Dort wirst du alles finden, was du brauchst, um die Verräter zu entlarven. Aber sei vorsichtig, Izzy. Niemand darf wissen, dass du auf der Suche bist. Sie werden dich überwachen, und sie werden nicht zögern, dich aus dem Weg zu räumen, wenn du ihnen zu nahe kommst. Vertraue niemandem – nicht einmal denen, die dir am nächsten stehen."_

Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, aber ich zwang sie zurück. Er hatte sich immer um mich gesorgt, mich beschützt – und jetzt lag es an mir, ihn zu beschützen, zumindest sein Vermächtnis. Aber wie sollte ich das schaffen, wenn ich nicht einmal wusste, wem ich noch vertrauen konnte?

Ich legte den Brief vorsichtig beiseite und griff nach den restlichen Papieren in der Kassette. Es waren Kontoauszüge, einige Notizen und... ein Foto.

Ich zog es heraus und hielt es näher ans Licht. Es war ein altes Bild von meinem Bruder , zusammen mit einem Mann, den ich nicht kannte. Er war groß, hatte dunkles Haar und ein scharfes Gesicht – ein Gesicht, das ich nie vergessen würde, wenn ich es einmal gesehen hatte. Unter dem Foto war ein Name notiert: „M. Delano."

Delano... Der Name sagte mir nichts, aber irgendetwas an ihm fühlte sich falsch an, als würde er dunkle Geheimnisse bergen, die ich noch nicht verstand.

Plötzlich wurde mir klar, dass dieses Schließfach nur der Anfang war. Er hatte versucht, mich zu warnen, aber er hatte mir auch die Werkzeuge gegeben, um seine Arbeit zu beenden. Ich würde das zweite Schließfach finden, und ich würde die Wahrheit herausfinden – egal, was es kosten würde. Mein Bruder hatte mir vertraut, und ich würde ihn nicht im Stich lassen.

Ich schloss die Kassette, steckte den Brief und die Papiere in meine Tasche und ließ die Pistole, wo sie war. Ich brauchte sie nicht – zumindest nicht jetzt. Doch in meinem Kopf formten sich bereits Pläne. Ich musste herausfinden, wer dieser Delano war und welche Rolle er in all dem spielte. Und vor allem musste ich herausfinden, wer in unserer Crew ein Verräter war.

Als ich den Raum verließ und zurück in die Bankhalle trat, fühlte ich mich, als hätte ich eine unsichtbare Last auf meinen Schultern. Die Erkenntnis, dass ich niemandem trauen konnte, lag schwer auf mir. Selbst Dan... ich wusste, dass er immer an meiner Seite war, aber Riveras Worte hallten in meinem Kopf wider:

_„Vertraue niemandem, nicht einmal denen, die dir am nächsten stehen."_

Ich trat nach draußen in die frische Luft, die Sonne blendete mich, und für einen Moment fühlte ich mich schwindelig. Die Welt schien sich schneller zu drehen, als ich mit ihr Schritt halten konnte. Aber ich wusste, dass ich stark sein musste.

Ich öffnete mein Handy und scrollte durch meine Kontakte. Es gab jemanden, den ich anrufen musste, jemanden, der mir vielleicht mehr über Delano erzählen konnte. Ein alter Informant, der in den Tiefen der Stadt lebte und mehr Geheimnisse kannte als jeder andere.

Mit zitternden Fingern wählte ich die Nummer und hielt das Telefon an mein Ohr.

Der Ton des Klingelns schien sich unendlich in die Länge zu ziehen, bis endlich jemand abhob.

"Ich brauche Informationen", sagte ich, bevor mein Gesprächspartner auch nur ein Wort sagen konnte. "Es geht um jemanden namens Delano."

Die Stimme am anderen Ende zögerte einen Moment. Dann kam die Antwort, leise und bedrohlich: "Du spielst ein gefährliches Spiel, Izzy. Aber gut, ich werde dir helfen. Aber sei bereit – was du findest, könnte alles verändern."

Ich atmete tief durch. Alles verändern... Das Gefühl hatte ich schon jetzt.

Aber ich war bereit. Was auch immer in diesem zweiten Schließfach lag, ich würde es finden. Und ich würde die Wahrheit ans Licht bringen – selbst wenn es mich alles kosten würde.

Black Rose: The Bloom |Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt