Part 2 ~ Erschöpfung

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Donner dröhnte zwischen den hohen Fichten im Wald hin und her. Ein Blitz erleuchtete den dunklen Wald für einen kurzen Moment. Immer noch rannte ich... und rannte und rannte. Mein Kopf schmerzte so schrecklich, dass ich dachte, ich würde sterben. Andrew war wirklich unglaublich.

Wir beide kannten uns seit ich denken konnte. Schon in der Grundschule klebten wir aneinander wie Teer und Federn. Nachmittags waren wir immer zusammen spazieren gegangen oder zum Teich in der Nähe. Wir hatten keine Geheimnisse. Zu gut konnte ich mich an seine dunkelbraunen Augen und die blonden, aufgestellten Haare erinnern, die ich immer nur allzu gerne zerstrubbelt hatte.

Wenn ich daran dachte, was letzten Samstag passiert war, musste ich mich beherrschen nicht gleichzeitig zu lachen und zu heulen. Ich stolperte über eine dicke Wurzel und fiel hin. Mein Knie blutete. Jetzt weinte ich wirklich. Aber nicht wegen des Knies... Die Tränen liefen mir nur so übers Gesicht, meine Hände zitterten als ich versuchte einen Fetzten von meiner Bluse herunterzureißen und ihn um mein Knie zu binden. Das Atmen fiel mir sehr schwer und mir wurde schwindelig vor Erschöpfung. Wie ich mich gerade fühlte, erinnerte mich ein Bisschen an das Gefühl, das ich hatte, als ich am heißen Asphalt lag und mir die Hände vors Gesicht hielt, damit Andrew nicht auch noch dort nach mir treten konnte. Ich glaube nicht, dass ich je in meinem Leben so enttäuscht worden war.

Noch immer hörte ich Peters Stimme bestätigend schreien "Mach die Schlampe fertig Andrew! Du bist vielleicht doch nicht so ein Waschlappen, wie ich gedacht hab." Als ich damals kurz die Hände vom Gesicht nahm und zu dem 1,90m großem Footballer hinaufschaute, um ihm einen verachtenden Blick zu schenken, hatte er mir mit voller Wucht in die Magengrube getreten und vor mir auf den Boden gespuckt. Die anderen hatten gelacht als ich aufschrie und mich schmerzgequält krümmte. Andrew hatte gelacht.

Der Regen prasselte auf mich nieder. Ich liebte das Geräusch eines Gewitters. Die dunkelgraue Wolkendecke schuf so eine schöne Begrenzung nach oben. Als würde sie nicht zulassen, dass einem etwas wehtun könnte, als würde sie nur schmerzlinderndes, kühles Wasser zu deiner Haut lassen. Keine Sonne die dich verbrennen konnte. (Ein merkwürdiger Gedanke wenn man bedachte, dass ein Blitz dich in den Boden brennen könnte)

Ich ließ mich in die nasse Wiese fallen und spürte die Tropfen auf meinem Gesicht. Als es donnerte, zuckte ich zusammen. Wieder weinte ich. Das Gute am Regen ist, keiner sieht, wenn du weinst. Ich atmete keuchend ein und aus und schrie bis mir die Stimme versagte. Noch nie in meinem Leben hatte ich solchen Schmerz gefühlt. Psychischen Schmerz.

Plötzlich hörte ich etwas, zuerst nur leise, aber dann wurde die Stimme lauter.
"Lyra! Hey, Lyra komm!", rief die Stimme und ich hörte Blätter rascheln.
Es war eine tiefe, rauchige Stimme. Sie klang verschlafen, aber trotzdem irgendwie stark.
Ich wusste nicht, wie ich sie einordnen sollte, aber eines wusste ich: ich wollte sehen, wem sie gehörte.

running in the rainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt