Part 42 ~ Vögelchen

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Ja, ich liebe den Regen. Ich liebe die Geräusche, ich liebe die Kälte und wie das Wasser einfach aus dem Nichts auf die Haut tropft. Wie die Haare nass werden und dunkel und dann an den Wangen kleben. Ich habe gelernt den Regen zu lieben. Und nein, es gibt nichts, dass ich mir mehr wünschen würde, als einen Kuss im Regen. Mit dunklen, nassen Haare, die an den Wangen kleben. Und das Gefühl der Tropfen auf meiner Haut, das Gefühl von Jeydons Lippen auf den meinen. Aber ich glaube es ist jedem klar, was passieren könnte. Kein Gewitter ohne Donner. Kein Donner ohne tödliche Blitze.

"Es tut mir leid", wisperte ich und legte meinen Kopf auf Jeydons Schulter. Wir saßen in seinem Zimmer auf dem Boden und streichelten Lyra, die genüsslich mit dem Schwanz wedelte.

"Was tut dir leid, Süße?"

"Dass ich so selbstsüchtig bin"

Er wendete den Blick von Lyra ab und schaute mir in die Augen. Kohlrabenschwarze Augenbrauen. Dichte, dunkle Wimpern. Leuchtend blaue Augen. Er war so unglaublich schön.

"Wie kommst du auf so einen Schwachsinn?", fragte er und strich mir eine blonde Strähne hinters  Ohr.

"Ist doch so", meinte ich und wendete den Blick ab. Ich starrte ins Leere während meine Hände weiter Lyras dunkles Fell kraulten.
"Ich hab einfach Angst, Jeydon. Ich hab Angst, dass Peter oder Andrew.... Dass du das abkriegst. Dass du alles abkriegst, was ich hätte abkriegen sollen"

Andrew wird das von heute nicht auf sich sitzen lassen. Und wenn er mit Peter und der Gang, wenn es zu viele wären. Wenn Jeydon keine Chance hätte. Wenn sie ihm wehtun würden.
Mir wurde schlecht.

"Süße, glaub mir eins", er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände "ich würde mir nichts mehr wünschen"

"Ich weiß", flüsterte ich "und genau das, macht mir Angst. Aber Jeydon, es tut mir leid, dass ich so selbstsüchtig bin und dich nicht gehen lassen kann"

Er küsste mich, ganz sanft, als würde ich zerbrechen, wenn er zu grob wäre. "Deine Selbstsüchtigkeit", flüsterte er kaum hörbar und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. "Weißt du, wenn ich sage ich liebe dich, meine ich einfach alles an dir. Deine Selbstsüchtigkeit, deine großen, blauen Augen, die Skepsis in deinem Blick, wenn irgendwer behauptete, Technik sei die beste Erfindung der Menschheit"
Er lachte leise und ich lachte auch.
"Und deine Haare. Ich hab dich noch nie mit einem Flechtzopf gesehen oder mit einer aufwändigen Frisur. Deine Haare sind einfach nur glatt. Glatt und blond, ohne Locken, ohne Volumen, ohne Dreadlocks"

Ich musste heftig lachen. "Dreadlocks? Das findest du sexy?"

"Nein. Deine Haare sind sexy. Deine glatten, blonden Haare, die einfach nur glatt und blond sind"

Ich musste lächeln, als hätte ich seit Jahren nicht mehr gelächelt. Er spielte mit einer Strähne. "Ich liebe einfach alles an dir. Alles. Und Gott, nichts macht mich glücklicher als deine Selbstsüchtigkeit"
Er strich mit dem Daumen über meine Lippe, während er mein Gesicht festhielt "Nichts könnte mir mehr weh tun, als zu sehen, dass jemand dir weh tut"

Er küsste mich wieder. "Ich liebe dich so sehr", brachte ich nur heraus und spürte, dass meine Augen feucht wurden.

Und dann saßen wir einfach so da, am Boden. Streichelten Lyra, streichelten uns gegenseitig, sahen uns an, mit diesem Blick, von dem ich dachte, er würde mein Herz zum Zerborsten bringen. Aber er brachte es nur zum Schlagen.

Lange Zeit sagten wir nichts, doch dann unterbrach ich die Stille. Nicht weil sie mich störte, sie war angenehm. Eine schöne Stille, die man gerne genoß. Aber ich wollte seine Stimme hören.
"Ich wünschte, ich hätte ein Vögelchen"

"Einen Vogel? So einen Papagei.... Oder Ara? Der dann durch euer Haus flattert und dich anzwitschert wenn du aufwachst?", fragte er und lächelte breit.

"Nein, eine Schwalbe würde genügen. Eine graue Schwalbe in einem goldenen Käfig", entgegnete ich und lächelte zurück, während mein Blick verträumt ins Nichts gerichtet war.

"In einem Käfig", wiederholte er und sein Lächeln wurde kleiner.

"Ja. So wie wir alle eben", sagte ich und lehnte mich an ihn.

"Wie meinst du das?", fragte er und strich sich durch die schwarzen Haare.

"Wir leben doch alle in einem Käfig. Einem Käfig aus Richtlinien, Gesetzten, Moralvorstellungen. Einem goldenen Käfig des Menschseins"

Er strich mir über das Haar und atmete in meinen Scheitel.
"Warum willst du, dass die Schwalbe auch in einem goldenen Käfig ist?"
Seine Stimme klang ernst, aber weich. Als würde er es nicht verstehen wollen.

"Ich will sie frei lassen. Nur das", sagte ich und schaute ihn an. Ich lächelte. Ein Lächeln das mein Herz erreichte und Jeys auch, denn er lächelte noch breiter als ich.

"Mein Vögelchen", flüsterte er und küsste mich auf die Stirn "ich werde dich nie freilassen"

"Das hast du schon. Du bist nicht mein Käfig, du bist meine Welt. Meine Luft. Du bist mein Leben und alles andere ist mein Käfig", antwortete ich und küsste ihn.

"Mein Vögelchen", flüsterte er ganz leise. Ich glaube, er sagte es für sich und nicht für mich. "Mein Vögelchen"

Ich liebte den Regen zu sehr, um an Blitze zu denken. Ich liebte die Freiheit zu sehr, um in einem Käfig zu leben.
Ich liebte Jeydon zu sehr, um ihn gehen zu lassen.

running in the rainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt