Part 28 ~ Freiheit

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Wie schön es wäre, einfach nicht hier zu sein, einfach zu verschwinden. Unsichtbar und unantastbar, frei wie ein Vogel. Freiheit war etwas surreales, das wusste ich. Man musste kein Sklave sein, um versklavt zu sein, denn gesellschaftliche Zwänge allein reichten aus, um dich daran zu erinnern, dass du in Wahrheit ein Sklave warst....

"Boah schon spannend, in den Boden zu starren oder?", holte mich Nenas Frage aus den Gedanken. "Sorry", gab ich zurück und schaute sie an.
"Du warst immer schon langweilig Kathleen." Sie musterte mich abfällig und drehte sich um. "Kelly bring mir auch einen Radler", rief sie ihrer Schwester zu, die auf dem Weg in unsere Küche war. Ich schüttelte nur den Kopf und fragte mich, was es sich brachte, beim Mittagessen Alkohol zu trinken. Nicht falsch verstehen, ich war auch kein Engel auf dem Gebiet, aber Alkohol zu trinken, nur um ihn zu trinken, erschien mir etwas kindisch.
"Kannst du eigentlich auch sprechen hm?", fauchte sie mich an und wedelte mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum. "Ja kann ich, ich hab nur leider keine Lust mit jemandem zu sprechen, der den Intellekt einer Glühbirne hat", sagte ich mit einem bittersüßem Lächeln auf den Lippen. "Inte-was? Hast du mich gerade beleidigt, Specki?", fragte sie und stemmte die Fäuste in die Hüfte. "Nönö", antwortete ich grinsend und versuchte meine Verärgerung darüber, dass sie mich mit meinem alten 'Spitznamen' ansprach, zu verstecken.
Kelly war mit zwei grünen Glasflaschen zurück und setzte sich zu uns an den Tisch. Mittlerweile hatte sich unser Tisch in eine Art 'Jugendtisch' umgewandelt. Ich hasste Jugendtische. Die anderen Gäste plapperten fröhlich vor sich hin, während auf unserem Tisch brutale Stille herrschte. Damit meine ich nicht, dass Kelly und Nena nicht miteinander sprechen würden, sondern, dass ihr Gespräch für mich einfach derart stumpfsinnig war, dass ich es nur ansatzweise wahrnahm. "Ja und dann hat die blöde Kuh einfach den XS Rock angezogen.... Blabla sah aus wie eine Knackwurst Blabla.... Sowas von out blabla" Kelly unterbracht ihre Gesichte kurz um mich anzuschauen und begann ihren Satz mit den Worten: "Apropos fett, Kathleen du hast...."
Wütend krallte ich mich an die Bank. So eine arrogante Mistkuh. Ich unterbrach sie mitten im Satz, weil ich den Rest garnicht mehr hören wollte. "MUM WANN KOMMT JAMES", rief ich meiner Mutter zu, die Oma gerade etwas zu Trinken einschenkte. "Er verspätet sich. Um drei sollte er hier sein"
Na super noch eine Dreiviertelstunde.
Während Kelly weiter mit Nena über irgendwelche 'Opfer' oder 'Streber' lästerte, holte ich mein Handy aus der Tasche.
>Wann kommst du?<
Zwei Minuten später >Jey, beeil dich bitte<
Da er nicht reagierte, legte ich mein Handy auf den Tisch. Eine Wespe kroch gerade in den Flaschenhals von Nenas Radler. "Mistviech", rief diese und versperrte der Wespe mit einem Untersetzter den Ausweg. "Verreck doch in der Flasche", sagte sie und grinste böse.
Die Wespe versuchte verzweifelt frei zu kommen. Die zarten Flügelchen bewegten sich schnell und versuchten den Körper in der Luft zu halten.
Ich hasste es einfach so sehr, Tiere leiden zu sehen. Einen Augenblick lang starrte ich sie einfach an und fragte mich, wie es sich für sie anfühlen musste, von dem beißenden Biergeruch eingehüllt zu werden, ob sie ihn überhaupt wahrnahm?
"Das arme Ding", murmelte ich leise vor mich hin und griff zu dem Deckel, um sie freizulassen. Nena packte mich am Handgelenk. Die Berührung rief Erinnerungen in meinem Kopf hervor. Ich sah Andrew vor mir, wie er mich festhielt und ausholte, hörte Steffs Schrei in meinem Kopf. Blitzschnell zuckte ich zurück. "Spinnst du? Das Viech wird uns noch stechen", rief Nena mir wütend entgegen.
Die Bilder in meinem Kopf, die die Berührung geweckt hatte, machten mich perplex, sodass ich nichts sagen konnte.
Halt durch, wenn sie nicht herschauen, hol ich dich raus, flüsterte ich der Wespe im Gedanken zu und legte meine Hände auf meine Oberschenkel.
"Hallo", rief eine dunkle, kehlige Stimme und ich riss ruckartig dem Kopf hoch.
Er stand da, mit seiner verwaschenen Jeans und dem hellgrauen T-Shirt, das über seine Brust spannte. Er hatte eine Hand zu Begrüßung gehoben, in der anderen hielt er einen riesigen, wunderschönen Blumenstrauß. Rote, orange und rosa Blüten, die aussahen, als würden sie wundervoll duften. Alle Augen waren auf ihn gerichtet und die Leute unterbrachen für kurze Momente ihre Diskussionen, um "Grüß Dich" oder "Servus" zu rufen, oder ihn einfach anzustarren. Jeydon hatte dieses gewisse Etwas an sich, dass alle Blicke auf sich zog.
Kelly und Nena hatten sich kurz umgedreht, um sich daraufhin einen Vielsagenden Blick zuzuwerfen. Kelly sagte etwas wie 'reserviert' zu ihrer Schwester, aber ich hörte nicht genau zu. Normalerweise hätte ich ein triumphierend böses Lächeln auf den Lippen gehabt, aber ich war einfach gerade viel zu glücklich ihn zu sehen, als dass ich mich um Nena und Kelly geschert hätte.
"Ihr entschuldigt mich", murmelte ich abwesend, nahm aber Kellys mahnenden Blick war, der sowas wie Halt dich fern, der gehört mir aussagte. Ne, der gehört MIR, dachte ich und stand stürmisch auf. Ich biss mir grinsend auf die Unterlippe und lief auf ihn zu. "Hey, Süße", sagte er weich, mit einem schiefen Grinsend im Gesicht. Ich schlang meine Arme um seinen Hals um ihn zu umarmen, aber plötzlich berührten meine Füße den Boden nicht mehr, und er drehte sich einmal mit mir, um mich dann wieder hinzustellen. Ich musste lachen und küsste ihn kurz, aber innig. Blaue, strahlende Augen ließen mich erschaudern.
"Ich bin so froh, dass du endlich da bist", flüsterte ich ihm erleichtert zu. Er zwinkerte nur. Er legte mir einen Arm um die Schulter und wir gingen auf meine Mum zu. Er zog eine Rose aus dem Strauß und ich dachte, er würde sie mir geben, tat er aber nicht. Erst jetzt bemerkte ich, dass uns alle anstarrten, aber das war mir egal.
"Alles Liebe, Mrs Nasch"
Er lies mich los, um Mum zu umarmen und ihr die Blumen zu überreichen.
"Aww, wie lieb von dir", bedanke sie sich strahlend.
"Hallo, Jey", begrüßte ihn mein Dad und schüttelte seine Hand. Jeydon lächelte sein breites, albernes Lächeln, dass ich so liebte. "Oma, Opa, das ist Jeydon, mein Freund", stellte ich ihn vor.
"Schön dich kennenzulernen, Junge"
Mein Opa schüttelte ihm ebenfalls die Hand. "Sehr erfreut, Sir", begrüßte Jey ihn. Meine Oma wirkte etwas skeptisch. Ernst musterte sie ihn. "Oh, wo bleiben meine Manieren", er überreichte Oma die orangefarbene Rose und verbeugte sich leicht. "Ist mir eine Ehre, sie kennenzulernen Madam"
Bis über beide Ohren Lächelnd, nahm sie die Blume an und schüttelte seine Hand. "Oh.... Danke!", sagte sie begeistert und lachte. Ja, er hatte sogar meine skeptische Oma für sich gewonnen.
So war er. Jeder andere hätte sich gerade zum Klops gemacht, mit dieser altmodischen, unmodernen Begrüßung, aber Jeydon nicht. Jeydon wurde sofort von allen ins Herz geschlossen, denn er wirkte einfach so herzlich, so.... So echt.
Ich stellte ihn auch dem Rest meiner Familie vor. So weit ich das beurteilen konnte, mochten ihn alle. Als wir uns auf den Weg zum 'Jugendtisch' machten, hörte ich meine Tante kurz pfeifen und zu meiner Mum so etwas sagen wie :"Da hat Kathleen aber einen guten Fang gemacht"
Ich musste mich zurückhalten, um nicht laut loszulachen und hoffte, Jey hatte die Bemerkung überhört, aber sein selbstgefälliges Grinsen sagte was anderes. Ich boxte ihm leicht gegen den Oberarm. "Ach, Süße", seufzte er und küsste mich revanchierend auf den Kopf. Als wir uns wieder zu Kelly und Nena an den Tisch setzten, saßen die beiden einfach mit offenem Mund da. Dann stammelte Kelly irgendwas, das wie "Hi" klang.
"Hey, ich bin Jeydon. Kats...", er schaute mich an "Freund"
Ich kicherte in mich hinein, als ich Nenas Blick sah. Schön für mich, dass Blicke nicht töten können, dachte ich.
Ich blickte in die Flasche, in der die Wespe immer noch versuchte, aus ihrer aussichtslosen Situation zu entfliehen. Sie knallte immer wieder gegen das Glas und irgendwie machte mich der Anblick traurig. Plötzlich griff eine schöne, große Hand nach dem Deckel und schob ihn weg. Die Wespe flog, vom Wind getragen, davon.
Nena schimpfte nicht, sie beschwerte sich nicht einmal. Ich glaube, sie wollte einfach gut auf Jeydon wirken, außerdem hätte ich mir auch nicht vorstellen können, dass irgendwer Jeydon blöd kommen würde. Er sah einfach nicht wie ein Typ aus, mit dem man sich anlegen sollte.
Ich schaute ihn lächelnd an und er hatte ein schiefes Grinsen im Geischt.
"Keine Sorge, sie ist jetzt frei", flüsterte er mir ins Ohr. Ich schenkte ihm einen liebevollen Blick, woraufhin er mich küsste.
Sie war frei. Wirklich frei, wirklich und wahrhaftig.
Ich schaute in seine wunderschön blauen Augen. Die Welt war wie stehengeblieben. Die Geräusche um mich herum gedämpft. Der Wind war nicht mehr kalt, die Sonne blendete nicht mehr, Kellys Blick störte mich nicht mehr.
Sie ist frei, genauso wie ich, wenn er bei mir war.

running in the rainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt