Eins

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Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr denkt, dass ihr alles verloren habt? Wenn euer Leben einen Tiefpunkt erreicht hat. Wenn ihr am Boden liegt und es einfach nicht mehr schafft aufzustehen? Aber dazu kommen wir später .. 

Das Klingeln meines Handys riss mich aus meiner Tagträumerei. Ich schaute auf den Display ... Selma. Ich fing an zu lächeln. Meine beste Freundin. Meine Seelenverwandte. Seit dem Kindergarten waren wir unzertrennlich. Nach dem tödlichen Autounfall meiner Mutter, war sie immer an meiner Seite gewesen. Genauso, wie ich nach der Trennung ihrer Eltern für sie da gewesen bin.
Ich nahm ab.

''Hey, canim.''
"Nerdesin (Wo bist du), Sibel?''


Sie klang beleidigt.
  
''Zu Hause, wieso?''
''Wieso? Du Arschloch, wir wollten heute shoppen gehen?''
''Verdammt! Hab es total vergessen.''

Selma brach am anderen Ende der Leitung in Gelächter aus.

''Mal wieder'', versuchte sie mich zu ärgern.
''Nix mal wieder.''
''Ich hab bis vorhin mit Pinar gequatscht und hab es verpeilt.''
''Ja Ja, lass die Ausreden, beweg deinen hübschen Hintern her, ich warte.''
''Tamam (Okay), bin gleich da.''

Lächelnd legte ich auf und zog mich an. Ich warf kurz einen Blick ins Wohnzimmer und sah Pinar - meine kleine Schwester - auf der Couch liegen. Sie zappte gelangweilt durch die Kanäle, starrte dabei aber auf ihr Handy. Typisch für die heutige Jugend. 

"Pinar, ich geh raus. Falls Baba kommt, dann mach ihm das Essen warm."
"Mhm ..."
"Pinar!", schrie ich.

"Was?"
"Hast du mir zugehört?"
"Ja, Essen machen."
"Warm machen, kiz (Mädchen)! Ist im Ofen."
"Tamam", sagte sie, ohne ein einziges Mal den Blick vom Handy zu nehmen. 

Manchmal war sie echt schwierig. Vor allem kurz nach Mamas Tod, war es fast unmöglich zu ihr durchzudringen. Ich habe versucht eine Mischung aus Mutter, Schwester und Freundin für sie zu sein. Heute, mit ihren vierzehn Jahren, klappt das um einiges besser.

Ich schlüpfte in meine Schuhe und verließ das Haus. 


Nachdem Selma und Ich mehr als zwei Stunden die Geschäfte unsicher gemacht hatten, gönnten wir uns einen Cafe bei Starbucks. Wir redeten eine Weile über die nächste Klausur. 

''Sibel .. Sibel?''

Selma tippte mir auf die Schulter, verwirrt fuhr ich hoch.

''He was? Hast du was gesagt?''
''Du bist so doof, hast sicher wieder an ihn gedacht.''
''Hm'', erwiderte ich nur. 

Selma schüttelte ungläubig den Kopf. 

''Ich versteh das einfach nicht. Dir liegt die halbe Männerwelt zu Füßen, bist eins der beliebtesten, intelligentesten und hübschesten Mädchen an der Uni und verliebst dich in das größte Arschloch weit und breit. Ich werde es nie verstehen.''
''Liebe muss man nicht verstehen, Selma. Außerdem ist er kein Arschloch! ''
''Wenn man vom Teufel spricht .. ''

Sie deutete mit einer Kopfbewegung Richtung Eingang. Ich drehte mich um und erstarrte. Für einen Augenblick setzte mein Herzschlag aus, ich rang nach Luft, sein Anblick raubte mir den Atem ...  

Da stand er. Tolga. Dieses Prachtstück von Mann. 1,85 groß und stark. Grüne Augen, die man selbst von zwanzig Meter Entfernung funkeln sah. Traumhaft! Und da war dann noch sein Lächeln, sein atemberaubendes Lächeln, das jedes Mädchen zum Schmelzen brachte. Er war perfekt! Und das wusste er auch. Herzensbrecher, so nannte man ihn in der Uni. Er war nicht nur hübsch, sondern auch intelligent. Studierte Mathe und Physik und war obendrein noch mega beliebt.
Selma übertrieb zwar mit dem ''Dir liegt die halbe Männerwelt zu Füßen'', aber ich war mit meinen 1,77, mit meinen langen schwarzen Locken, meinen blauen Augen und meinen vollen Lippen ein recht hübsches Mädchen. Ich hatte viele Verehrer ... aber ich wollte nur ihn! Das Problem war, dass er mich nicht wollte. Ich war wie Luft für ihn, er sah mich nicht.
Tolga setzte sich mit seinen Freunden ein paar Tische entfernt von uns. Ich konnte einfach nicht aufhören ihn anzustarren. Wie oft hatte ich mir schon gewünscht, er würde mich ansprechen. 

''Hör endlich auf'', fuhr Selma mich an.
''Of Ya'', seufzte ich tief. ''Ich frage mich manchmal, ob er überhaupt weiß, dass ich existiere. Ich könnte ihn Stundenlang beobachten, er würde mich trotzdem nicht bemerken."
"Das glaubst du ja selber nicht, der hat schon lang ein Auge auf dich geworfen.''

Ich richtete mich sofort auf und sah Selma mit großen Augen an. 

"Glaubst du?", fragte ich aufgeregt. 
"Nein, ich glaube nicht, ich weiß es. Das Problem, ist er wird nie was mit dir anfangen, weil du nicht leicht ins Bett zu kriegen bist.''
''Ich bin nicht leicht ins Bett zu kriegen? Ich bin gar nichts ins Bett zu kriegen! Wenn ein Mann nicht respektieren kann, dass ich bis zur Ehe warten will, dann zum Teufel mit ihm!''

Enttäuscht vergrub ich mein Gesicht in meine Hände.

''Yapma (Hör auf) canim, er ist es nicht wert'', versuchte Selma mich zu trösten. ''Komm lass uns gehn'', meinte sie dann zog ich auf die Beine.

Ich warf noch einen letzen Blick Richtung Tolga, bevor wir das Cafe verließen.


Tolga 

''Haste eben die heißen Schnitten gesehen, Tolga?''

Can hatte die Frage gestellt, neben Kevin war er mein bester Freund.
''Ja, die gehen doch bei uns auf die Uni?'', antwortete ich.
''Ich kenne die beiden", warf Kevin ein. "Das sind brave Türkinnen, gehen ab und zu Shisha rauchen, aber das war es auch schon. Die feiern richtig selten, hab die beiden noch nie in einer Disko gesehen.''
''Keine leichte Beute, so wie es sich anhört", sagte ich.

Die Jungs lachten.

''Die große mit den schwarzen Haaren heißt Sibel. Hübsches Ding", sagte Kevin.
''Ich finde die andere geiler .. mit der kann man sicher Spaß haben. Wenn ihr wisst, was ich meine."

Can markierte sein Revier. Ich grinste breit.

''Wo wir grad bei leichte Beute sind.. welche gefällt dir besser Bro?'', fragte er mich.

Mein Grinsen wurde breiter.

 ''Diese Sibel hat nen geilen Body und krasse Augen ..''
''Träum schön weiter,'' unterbrach Kevin mich lachend. ''Die kriegst du niemals ins Bett. Na ja, was heißt niemals, das ist so eine, die du erst in die Kiste kriegst, wenn du sie heiratest.''
''Abooo, haste das gehört Bro? Das klingt nach einer Herausforderung. Kommt lasst wetten. Kevin, wenn Tolga es schafft, das Mädel flachzulegen ohne sie zu heiraten ...''
''Dann kriegt er n 200er von mir und ne Kiste Bier gratis dazu", vollendete Kevin den Satz. 

Wieder lachten die Jungs. Mein Grinsen war so breit geworden, dass es weh tat. 

''Challenge accepted", rief ich und hob meine Kaffeetasse. "Ich heiß nicht Tolga, wenn Sibel nicht innerhalb von drei Monaten in meinem Bett liegt ..." 

Und so nahm das Unheil seinen Lauf ...  

Liebe mit HindernissenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt