Neunundfünzig

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Nachdem ich unterschrieben hatte, schloss ich die Tür und starrte einen Moment auf das Paket. Es kam aus München .. von Emres Vater. Irgendwie fand ich es nett, aber irgendwie auch nicht. Er hat sich seit über einem Jahr nicht blicken lassen. Nach der Sache mit Meryem war das zwar nicht anders zu erwarten aber trotzdem .. immerhin ist Emre sein Sohn. Ich ging also wieder ins Wohnzimmer, wo die anderen bereits nach mir ruften.

„Wer war an der Tür?", fragte Emre.

Selma: „Oh von wem ist das Paket?"

Ich sah erst auf's Paket, dann wieder zu Selma.

„Von deinem Vater.", antwortete ich leise.

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig, ihr Lächeln war verschwunden.

„Wie nett von ihm.", sagte Selma mit ruhiger Stimme.

Ja, sie war wirklich die Ruhe in Person, obwohl ich wusste was gerade in ihr vorging. Es war so ein unangenehmes Gefühl dieses Paket in der Hand zu halten. Vorallem hatte er zu Murats Geburt nicht mal angerufen. Mal wieder wurde mir bewusst, was für ein mieser Vater er doch war. Alle anderen sagten nichts, sie war wie vom Donner gerührt. Was für ein wiederliches Verhalten, solche Unterschiede zwischen den eigenen Kindern zu machen. Als ob Selma nicht seine Tochter wäre. Emre stand auf und nahm mir das Paket aus der Hand. Er wirkte total wütend.

„Das brauchen wir nicht, ab in den Müll damit.", zischte er.

Er verschwand in der Küche und kam kurz darauf wieder ins Wohnzimmer. Es herrschte eine richtig bedrückende Stille, keiner wusste was er sagen sollte. Ich warf einen Blick auf Selma, die Murat auf dem Schoß hatte und Löcher in die Luft starrte. Can saß neben ihr und strich ihr liebevoll über den Rücken. Er war ein guter Mann, ich wusste dass er sie glücklich macht.

„Selma alles okay?", brach Emre endlich das Schweigen.

„Evet (Ja).", antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.

„Alles bestens, was soll schon los sein.", fügte sie mit zitternder Stimme hinzu.

Sie war den Tränen nahe, was wiederrum dazu führte, dass meine Augen sich auch füllten. Plötzlich stand sie auf und ging mit Murat in die Küche. Sofort folgte ich ihr. Selma setzte sich wortlos auf einen Stuhl und fing an zu weinen. Murat drückte sie fest an sich. Das tat im Herzen weh sie so zu sehen. Schnell wischte ich mir die Tränen weg, die mir bereits die Wangen runterkullerten und setzte mich neben sie.

„Canim bitte wein nicht, das ist es nicht wert.", versuchte ich sie zu trösten.

„Nein ist es auch nicht. Ich weiss, dass er es nicht wert ist. Keine einzige Träne, keine einzige verfluchte Träne! Aber ich kann nichts machen, es tut trotzallem weh Sibel. Es tut verdammt noch mal weh, genau hier! Wieso schmerzt das so?", sagte sie unter Tränen und zeigte dabei auf ihr Herz.

Murat fing an zu weinen, Selma versuchte ihn vergeblich zu beruhigen.

„Shht oglum, nicht weinen. Nicht weinen.", sprach sie auf ihn ein.

Selma: „Mama liebt dich, du bist alles für mich. Ich hab nur dich."

Sibel: „Sag sowas nicht Selma!"

„Dieser Mann ist für mich gestorben. Er exisitiert nicht mehr für mich. Er ist nicht mein Vater, nicht mehr. Mein Erzeuger, ja das ist er. Sonst nichts. Ich hasse ihn aus tiefstem Herzen. Möge Allah mir verzeihen, aber ich hasse ihn."

„Selma .. yapma (hör auf).", meine Stimme zitterte.

Bei ihrem Anblick und ihren Worten, zog sich mein Herz zusammen. Sie hatte mittlerweile aufgehört zu weinen, aber ihre Augen spiegelten all ihre Gefühle wieder. Hass, Enttäuschung, Wut und Schmerz. Dieser Moment, wenn man einfach realisiert, dass du deinem Vater am Arsch vorbei gehst. Dass es ihm nicht im geringsten juckt wie es dir geht. Dann noch dieses Paket zu sehen, das gab ihr dann den Rest.

Liebe mit HindernissenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt