Das Auenland

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Die Sonne blinzelte durch die Baumkronen und warf tanzende Lichtpunkte auf den Waldboden. Muriel blieb stehen und atmete tief ein. Wie sie den moosig-erdigen Geruch des Waldes liebte! Ganz besonders intensiv und schön war er, wenn es geregnet hatte und dann die Sonne wieder schien. So wie heute.

Sie trat auf eine kleine Lichtung. Hier war der perfekte Ort, um eine Rast einzulegen. Muriel hatte schon vor einiger Zeit ihren Magen deutlich knurren gehört, ihn aber bisher ignoriert. Sie nahm ihren Rucksack ab und lehnte ihn an einen alten Baumstumpf, der auf der Lichtung stand. Den großen Bogen und den Köcher mit den Pfeilen stellte sie behutsam daneben. Der Baumstumpf war noch etwas feucht vom morgendlichen Regen, aber was machte das schon. Sie war ja schließlich nicht aus Zucker.

Mit einem wohligen Seufzer ließ Muriel sich auf den Baumstumpf plumpsen und streckte ihre Beine aus. Sie griff nach ihrem Rucksack und öffnete ihn. Hm, was hatte sie denn noch? Zwei Äpfel, eine Scheibe Brot und eine Karotte, die aussah, als hätte sie ihre besten Zeiten schon hinter sich. Muriel verzog das Gesicht. Es war wohl an der Zeit, sich wieder etwas Anständiges zu essen zu besorgen. Sie fischte sich einen der Äpfel aus dem Rucksack und biss hinein.

Wenn sie sich beeilte, konnte sie es heute noch bis Wasserau schaffen. Weit konnte es nicht mehr sein. Und dort gab es, soweit Muriel wusste, einen Gasthof. Dort würde sie übernachten können. Wieder einmal in einem richtigen Bett schlafen.

In den vergangenen Wochen hatte sie sich abends einen geschützten Lagerplatz im Wald gesucht und mehr schlecht als recht geschlafen. Sie hatte sich das Leben in der Natur einfacher vorgestellt.

Aber sie würde sich schon noch daran gewöhnen. Schließlich war sie immerhin zur Hälfte eine Waldelbin.

Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrem Geburtstag, der ihr ganzes Leben verändert hatte. Nach 21 Jahren hatte sie erfahren, dass sie nicht die war, für die sie sich bis dahin gehalten hatte. Die ersten Tage hatte sie noch geglaubt, sie sei in einem komischen Traum gefangen und würde jeden Moment wieder aufwachen. Aber sie wachte nicht auf.

Ihre Eltern, vielmehr die, die sie bis dahin für ihre Eltern gehalten hatte, sprachen nicht mehr über die ganze Sache. Sie hatten ihr gesagt, was sie wissen musste und nun schien das Leben für sie wieder völlig normal weiter zu gehen. Auch Muriel hatte geglaubt, ihr Leben einfach so weiterleben zu können, als Tochter des Gastwirtspaares Butterblum im „tänzelnden Pony" in Bree. Sie hatte wieder, wie all die Jahre zuvor, jeden Tag die Gäste bedient und ihrer Mutter geholfen, die Gastzimmer herzurichten.

Doch von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, war eine innere Unruhe in ihr gewachsen. Immer klarer war ihr geworden, dass sie aufbrechen musste. Wohin? Das hatte sie nicht wirklich gewusst. Aber vielleicht würde sie ja irgendwo noch etwas mehr über ihre wahren Eltern und ihre Herkunft erfahren können.

Ob die Elben, die im Osten in Bruchtal lebten, ihr vielleicht weiterhelfen konnten? Oder, noch besser: Sie musste Gandalf finden. Wenn jemand ihr etwas erzählen konnte, dann doch mit Sicherheit er! Er hatte sie schließlich selbst gefunden und nach Bree bringen lassen. Wenn sie nur gewusst hätte, in welche Richtung er Bree verlassen hatte.

Jedenfalls hatte Muriel dann beschlossen, aus Bree fort zu gehen und sich auf gut Glück auf die Suche nach Gandalf zu machen.

Die Butterblums waren nicht glücklich über ihren Beschluss gewesen. Na ja, das ist eine gewaltige Untertreibung. Sie waren zutiefst getroffen gewesen, als sie ihnen ihren Beschluss mitgeteilt hatte. Aber Muriel rechnete es ihnen hoch an, dass sie nicht versucht hatten, sie aufzuhalten.

Mutter Butterblum hatte ihr noch Proviant für mehrere Tage eingepackt und ihr Ziehvater hatte sie auf die Seite genommen und ihr feierlich seinen großen alten Bogen und den Köcher mit den Pfeilen überreicht. Muriel hatte die Sachen zuerst gar nicht annehmen wollen. Sie wusste doch, wie sehr der alte Butterblum diesen Bogen liebte. Doch er hatte darauf bestanden und gemeint, er würde ja ohnehin keine Zeit mehr haben, in den Wald zu gehen und ihn zu benützen. Und ihr würde er mit Sicherheit gute Dienste leisten. Also hatte sie ihn dann schließlich doch angenommen.

Von Hoffnung, Angst und LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt