Der Besuch

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Na endlich! Als Muriel an diesem Morgen die Gardinen zurückzog und aus ihrem Fenster schaute, regnete es ausnahmsweise nicht. Irgendwie schien es in Bree häufiger zu regnen als anderswo. Jedenfalls behaupteten das die Reisenden, die aus anderen Landesteilen kamen und im „Tänzelnden Pony" Halt machten.

Muriel konnte das nicht beurteilen, war sie doch noch niemals aus Bree weg gewesen. So war sie schon wirklich zufrieden, wenn, wie an diesem Morgen, die Wolken weniger dunkel waren und es wenigstens von oben trocken blieb.

In der vergangenen Woche hatte es wirklich ununterbrochen geregnet. In den Straßen und Gassen von Bree standen überall Pfützen. Glücklich, wer an einer gepflasterten Straße wohnte. In den einfachen Lehmgassen der Stadt, hatte der Regen den Boden so aufgeweicht, dass er sich in einen regelrechten Morast verwandelt hatte.

Durch das besonders schlechte Wetter der vergangenen Woche, waren nur wenige Durchreisende nach Bree gekommen. Die meisten Gästezimmer standen leer und selbst den Einwohnern von Bree war es zu nass gewesen und so hatten in den letzten Tagen auch abends in der Gaststube nur vereinzelt Leute gesessen.

Muriel mochte Tage wie diesen, denn wenn es im Gasthaus kaum etwas zu tun gab, konnte sie sich einige Stunden frei nehmen und durch die Gegend streifen.

Ihre Mutter sah es nicht gerne, wenn sie in die Wälder vor der Stadt zog, denn es lauerten dort doch allerhand Gefahren auf eine junge Frau. Muriel selbst hatte keine Angst. Schon als kleines Mädchen hatte ihr Vater sie, wenn im Gasthaus einmal Ruhe herrschte, mit in die Wälder genommen. Und er hatte ihr sogar gezeigt, wie man mit einem Bogen schießt.

Dem lieben Butterblum traute man eigentlich gar nicht zu, dass er mit irgendeiner Art von Waffe überhaupt umgehen konnte, aber mit Pfeil und Bogen war er ziemlich geschickt.

Für ihn war es eher ein netter Zeitvertreib als eine Waffe. Das Wild, das seine Frau in der Küche zubereitete, ließ er von Jägern aus der Stadt schießen, und Muriel bezweifelte, dass ihr Vater überhaupt auf irgendetwas Lebendiges hätte schießen können.

So machte er sich immer nur einen Spaß daraus, sich ein Ziel auszusuchen und dann versuchte er, es zu treffen. Und er war ziemlich gut. Als Muriel etwa 8 Jahre alt gewesen war, hatte ihr Vater ihr, sehr zum Leidwesen seiner Frau, einen kleinen Bogen geschenkt und ihr beigebracht, damit zu schießen. Von da an hatten sie großen Spaß daran, sich kleine Wettkämpfe zu liefern, wer denn nun der bessere Schütze sei.

Leider waren im Laufe der Jahre die gemeinsamen Streifzüge durch die Wälder immer seltener geworden. Je bekannter und beliebter das Gasthaus geworden war, desto mehr Arbeit gab es dort. Und nun gab es eigentlich immer so viel zu tun, dass der gute Butterblum überhaupt nicht mehr die Zeit fand, seinen Gasthof zu verlassen.

So zog Muriel, wenn sie einmal Zeit dazu hatte, alleine los. Und mit Pfeil und Bogen bewaffnet, sollte ihr nur einer dumm kommen! Sie war sich sicher, sie würde nicht zögern, sich zu verteidigen, wenn es nötig werden sollte.

Muriel zog sich eine Hose und eine alte Jacke an, nahm ihren Köcher und den Bogen und ging in die Gaststube. Ihr Vater saß an einem Tisch über einige Rechnungen gebeugt und ihre Mutter klapperte in der Küche mit den Töpfen.

„Vater, ich würde gerne eine Weile in den Wald gehen, wenn ihr mich hier entbehren könnt", sagte Muriel. Ihr Vater blickte auf und lächelte, als sie mit ihrem Bogen vor ihm stand. „Grüße den Wald von mir", antwortete er und schaute etwas wehmütig.

Mutter Butterblum streckte den Kopf durch die Küchentür heraus und war weniger begeistert, als sie ihre Tochter in dieser Aufmachung sah. „Kind, du siehst aus, wie ein Landstreicher!", seufzte sie und wandte sich dann mit hochgezogenen Augenbrauen an ihren Mann: „Dass du ihr auch erlaubst, so herumzulaufen...und dann noch diese alberne Bogenschießerei!"

Von Hoffnung, Angst und LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt