Inzwischen waren weitere zwei Wochen vergangen. Morwen war endgültig auf dem Wege der Besserung. Doch noch immer wagte Elrond es nicht, die Heilerin ohne ständige Aufsicht zu lassen. Immerhin hatte sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Und sie wirkte auch jetzt noch nicht wirklich glücklich darüber, dass ihr dieses Vorhaben nicht gelungen war.
Nach wie vor betrat auch Muriel täglich das Zimmer der Elbin und setzte sich für eine Weile an ihr Bett. In den ersten Tagen hatte Morwen regelmäßig böse Schimpfkanonaden auf Muriel losgelassen. Doch als Muriel sich davon nicht hatte abhalten lassen, war die Elbin dazu übergegangen, sie zu ignorieren. Meistens lag sie im Bett und starrte die Zimmerdecke an.
So auch an diesem schönen Spätsommertag. Die Sonne fiel durch das große Fenster und malte leuchtende Muster an die Wand hinter Morwens Bett. Muriel hatte einige Blumen mitgebracht und stellte sie gerade in eine Vase.
„Ich hatte gehofft, Ihr würdet irgendwann aufgeben", erklang plötzlich Morwens Stimme. Irritiert sah Muriel zu der Elbin. Sie hatte schon seit vielen Tagen kein einziges Wort mehr mit ihr gewechselt. Noch dazu war dieser Satz fast der erste nicht bösartig hervorgepresste, den Muriel je von ihr gehört hatte.
„Was meint Ihr?", fragte Muriel irritiert. Langsam drehte die Elbin den Kopf und sah Muriel an. „Ich bemühe mich seit Wochen, Euch das Leben zur Hölle zu machen", antwortete Morwen resigniert. „Und doch kommt Ihr jeden Tag wieder und bringt mir sogar Blumen! Warum tut Ihr das?"
Muriel setzte sich auf den Stuhl neben Morwens Bett und überlegte einen Moment. Wenn sie eines nicht wollte, dann war es, diese unberechenbare Frau zu erzürnen.
„Frau Morwen, ich glaube von Herzen, dass es in jedem Leben mehr als Qual und Leid geben sollte", fing Muriel dann leise an zu reden. „Ihr wart wirklich niemals freundlich zu mir, doch glaube ich, dass es tief in Eurem Herzen noch Freundlichkeit und Mitgefühl gibt, sonst hättet Ihr nicht eine so hervorragende Heilerin werden können, wie Ihr es seid."
Gespannt wartete Muriel auf eine Reaktion der Elbin. Wieder starrte diese nur an die Decke. Dann holte sie auf einmal tief Luft. „Ich werde Euch sagen, was es tief in meinem Herzen gibt", sagte sie mit zitternder Stimme.
„Nichts als Wut, Trauer und Verzweiflung...", fügte sie tonlos hinzu und Muriel sah eine einzelne Träne über die bleiche Wange der Elbin laufen. Muriel schluckte und legte behutsam ihre Hand auf die der Elbin.
„Das Schicksal scheint es bisher nicht gut mit Euch gemeint zu haben", sagte sie leise. Morwen schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. „Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was es für ein Gefühl ist, alles zu verlieren, was einem etwas bedeutet", sprach die Heilerin wieder mit bebender Stimme.
Muriel spürte, wie ihr Magen sich schmerzhaft zusammenkrampfte. Zu gut konnte sie sich an die Stunden und Tage erinnern, in denen sie der Überzeugung gewesen war, Aragorn für immer verloren zu haben.
Sie hatte diesen unglaublichen Schmerz nicht vergessen und die Erinnerung daran würde ihr vermutlich ihr ganzes Leben lang bleiben. Und selbst jetzt, da die Gefahr längst vorüber war, nahm ihr allein die Erinnerung beinahe den Atem.
„Täuscht Euch nicht, Frau Morwen", meinte Muriel nun leise. „Nicht nur einmal in meinem Leben meinte ich, alles, was für mich von Bedeutung war, verloren zu haben. Ich kenne den Schmerz, der die Luft zum Atmen nimmt und der einen wünschen lässt, einzuschlafen und nie wieder zu erwachen."
Ruckartig drehte Morwen ihren Kopf und Muriel sah ihren ungläubigen Blick. „Aber Ihr habt alles, was Ihr Euch wünschen könnt, und noch mehr! Ihr müsst doch glücklich sein!", brach es aus der Elbin hervor.
Muriel lächelte. „Ich bin glücklich", gab sie zu. „Doch es gab Zeiten, in denen ich nicht mehr glaubte, es jemals werden zu können", fügte sie ernst hinzu. „Und deshalb glaube ich daran, dass auch Ihr wieder glücklich werden könnt!", wandte Muriel sich nun an Morwen.
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Von Hoffnung, Angst und Liebe
FanfictionMuriel ist eine junge Frau, die im Städtchen Bree nahe der Grenze zum Auenland aufgewachsen ist. Sie führt ein ganz normales Leben und unterstützt ihre Eltern bei der täglichen Arbeit. Doch dann erfährt sie Dinge, die sie niemals für möglich gehalte...