Qualen

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Aragorn brachte Brego zum stehen und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Brego war nass geschwitzt und seine Flanken bebten.

Wie ein Irrsinniger hatte Aragorn ihn angetrieben. Weg, weit weg, egal wohin! Einfach nur weg aus Bruchtal! Weg von IHR!

In Aragorns Kopf drehte sich alles. Sein Herz raste, sein Kopf schmerzte, die Fähigkeit zu denken hatte ihn längst verlassen. Mühsam machte er sich daran, Brego den Sattel abzunehmen und den Hengst trockenzureiben.

Er band ihn nicht an. Sollte er hier bleiben oder gehen, was auch immer er wollte. Aragorn war es gleichgültig.

Erschöpft ließ sich Aragorn auf den Waldboden sinken und lehnte sich an einen Baum.

Mittelerde war gerettet, doch er hatte alles verloren.

Wie hart waren die vergangenen Monate gewesen. Wie oft war er nahe daran gewesen, jede Hoffnung zu verlieren. Wie oft war er dem Tode näher gewesen als dem Leben. Wie viel Leid und Tod hatte er sehen und ertragen müssen.

All das hatte er überstanden. Heil überstanden! SIE war es, die ihn das alles hatte überstehen lassen. Die Erinnerung an die Nacht vor dem Aufbruch der Gefährten hatte ihn am Leben gehalten. Die Liebe, die er in ihren Augen gesehen hatte. Und ihr Versprechen, in Bruchtal auf ihn zu warten.

Aragorn lachte bitter auf. Wie oft hatte er in den grausamen, kalten Nächten der Angst nach dem Anhänger getastet, den sie ihm geschenkt hatte? Wie oft hatte er sich an dieses kleine Zeichen der Liebe geklammert wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm?

Wie von selbst bewegte sich seine Hand zu seinem Hals und fuhr in den Ausschnitt seines Hemdes. Er spürte die feine Kette. Nein, es war nicht IHRE Kette. Die hatte er ihr voll Verzweiflung und Wut vor die Füße geworfen.

Langsam zog er den feinen goldenen Ring aus seinem Ausschnitt. Der zarte, goldene Ring wurde von einem atemberaubend schönen Diamanten geziert. Aragorns Hände zitterten, als er ihn betrachtete und Tränen stiegen ihm in die Augen.

Er sah seine Mutter vor sich, diese wunderschöne Frau, die er schon so lange verlassen hatte, als er damals in die Wälder gezogen war. Die wenigen Erinnerungen, die er noch an sie hatte, waren längst zu blassen Schatten geworden.

Dieser Ring war das Einzige, was ihm von ihr geblieben war. Er hatte ihn die ganzen Jahre gehütet wie seinen Augapfel. Niemals hatte er ihn abgelegt. Dieser Ring war ihm immer sein wertvollster Besitz gewesen.

Er hatte so genau gewusst, was er tun wollte.

Als die Schlacht vor dem Schwarzen Tor Mordors geschlagen und Sauron nur noch ein vergangener Alptraum war, hatte er es ganz genau gewusst.

Er, der Erbe Isildurs, war endlich bereit gewesen, seiner Bestimmung zu folgen und sein Erbe anzutreten. Er, der Waldläufer, der jahrelang vor sich selbst davongelaufen war, hatte sich bereit gefühlt, König von Gondor und Arnor zu werden.

Nur eines hatte er vorher erledigen wollen. Aragorns Hand schloss sich noch fester um den Ring. Den Ring seiner Mutter hatte er IHR geben wollen, sie auf Knien bitten, ihn als seine Königin zu begleiten, für immer an seiner Seite zu sein.

Für immer...welcher Hohn! Bitterkeit stieg in Aragorn auf.

Er hatte sich so sehr nach ihr gesehnt. Er hatte es nicht erwarten können, ihr in die Augen zu sehen, sie im Arm zu halten und ihre Lippen auf seinen zu spüren.

Aufgeregt, wie ein kleiner Junge war er gewesen. Den ganzen Ritt, von Ithilien bis Bruchtal, hatte er darüber nachgedacht, wie er sie um ihre Hand bitten sollte. Wieder und wieder hatte er sich ihr Gesicht vorgestellt, wenn er ihr diese Frage gestellt hätte.

Dann war er da gewesen. Endlich in Bruchtal. Er hatte es kaum geschafft, Elrond und Gandalf angemessen zu begrüßen. Er hatte nur SIE im Kopf gehabt.

Endlich war er in ihrer Zimmertür gestanden. Mit dem Rücken zu ihm hatte sie am Fenster gestanden. Und dann hatte sie sich umgedreht. Sein Herz hatte einen großen Hüpfer gemacht, als er in das Gesicht der Frau geblickt hatte, nach der er sich so lange gesehnt hatte.

Doch gerade als er den ersten Schritt auf sie hatte zugehen wollen, war es ihm gewesen, als hätte ihn jemand mit der Faust ins Gesicht geschlagen.

Sein Blick war auf ihre Mitte gefallen, wo das Kleid, das sie trug, nicht verbergen konnte, wie es um sie stand.

Aragorns Magen krampfte sich zusammen, als er nun wieder daran dachte.

Muriel erwartete ein Kind! Das war deutlich zu sehen gewesen.

Entsetzen und Schmerz waren über ihm zusammengeschlagen.

Wie hatte sie das tun können? Wie schnell hatte sie ihn vergessen?

Trauer übermannte Aragorn, nur um sich gleich darauf in Wut zu verwandeln. Wie dumm war er gewesen? Zu glauben, dass diese schöne junge Frau, die vermutlich fast jeden Mann haben konnte, ausgerechnet auf ihn, einen Waldläufer, warten würde. Und wenn er zehnmal der rechtmäßige Thronerbe Gondors war!

Woher hatte er die Hoffnung genommen?

Er hatte ihr geglaubt! Und wie schnell hatte sie sich von einem anderen trösten lassen!

Aragorn sprang auf und fing an, wie ein im Käfig gefangenes Tier auf der Waldlichtung hin und her zu gehen.

Wer war dieser Mann?

Er lachte böse auf. Vermutlich eher ein Elb als ein Mensch! Man wusste ja, welche enorme Anziehungskraft die männlichen Vertreter des schönen Volkes auf Frauen hatten. Die schienen alle den Verstand zu verlieren, wenn sie einen Elben vor sich sahen.

Oft genug hatte er genau das bei seinem Freund und Gefährten Legolas erlebt. Die Frauen wurden zu willenlosen, hirnamputierten Wesen in der Gegenwart eines schönen Elben.

Aragorn schüttelte verbittert den Kopf. Er hatte geglaubt, Muriel sei anders. Ja, sie war beeindruckt gewesen von Bruchtal, sie hatte sich sehr für die Elben interessiert. Aber er hatte es darauf geschoben, dass sie ja selbst eine Halbelbin war, die so viel über ihre Vergangenheit und die verborgene Seite in ihr wissen wollte.

Wie hatte er sich nur so in ihr täuschen können?

Welcher dieser unseligen Elbenkerle hatte ihm die Liebe seines Lebens genommen? Aragorn kannte sie alle, war er doch in Bruchtal aufgewachsen.

Er würde nie wieder dorthin zurückkehren! Sonst würde er mit Sicherheit diesem bestimmten Elben eigenhändig seinen hübschen, unschuldig dreinblickenden Kopf von den Schultern trennen.

War es Lindir, der Schönling? Oder gar einer der Söhne Elronds?

Ein wütender Schrei entfuhr Aragorn, als er ausholte und mit dem Stiefel gegen einen Baumstamm trat. Dann sank er zu Boden. Seine Schultern bebten.

Da lag er, ein Häufchen Elend auf dem weichen Waldboden, und weinte wie ein kleines Kind.

Der Schmerz wälzte sich über ihn wie eine tosende Woge, und er glaubte, darin ertrinken zu müssen. Er wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr fühlen.

Und nie wieder aufwachen.

Von Hoffnung, Angst und LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt