Kapitel 38: „Trautes Heim, Glück allein"

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Der nächste Morgen kam schnell, für Rapunzel zu schnell.
„Land in Sicht!", tönte es vom Deck und riss die Prinzessin so unsanft aus ihrem Schlaf. Sie blickte auf und sich um. Es dauerte eine Weile, bis sie realisierte, dass sie sich immer noch im Schiff befanden.
Als die Blonde nun jedoch ihren nackten Ehemann neben sich sah, musste sie unweigerlich lächeln. „Aufstehen, Schatz, die Sonne lacht!" Ihre schlanken Finger tanzten über seine Brust, strichen vorsichtig über seinen Bart, ehe sie sich in seinen Haaren verankerten. „Du bist so wunderschön!", hauchte sie leise, ehe sie ihn mit Küssen überfiel und das so lange, bis er endlich voll und ganz aus dem Traumland zurückgekehrt war. Seine Augen öffneten sich und er blickte sie lächelnd an, doch dabei blieb er noch liegen.
„Guten Morgen!", murmelte Eugene verschlafen und strich ihr sanft eine goldene Locke hinters Ohr, „Du bist noch viel schöner, glaub mir! Du bist meine goldene Sonnenblume, die mich wieder aufheitert, wenn ich mal niedergeschlagen bin. Und dafür danke ich dir so sehr!"
Auf Rapunzels Lippen legte sich ein warmes Lächeln und sie kuschelte sich noch einmal eng an ihn. „Wir sollten langsam an Deck, ich glaube, wir sind da...!"
„Ja, in der Tat!", lächelte der Berater, der in der Tür stand. Rapunzel drehte sich zu ihm um, hielt jedoch die Decke vor ihre Brüste. „Sagst du dem Kapitän bitte, dass wir Maximus vom Schiff führen?"
„Soll ich das nicht übernehmen?", fragte Raymond verwundert und betrachtete Rapunzel, die nun aus dem Bett kletterte und sich ihr Kleid schnappte. „Naja... Nein! Wir müssen eh zum Schloss, da können wir ihn auch selbst führen." Doch der Schwarzhaarige ließ nicht locker. „Ich muss auch zum Schloss?!"
Rapunzel grinste breit und schlang ihre Arme um den Hals des königlichen Beraters. „Du, mein lieber Raymond, kümmerst dich bitte um unser Gepäck!"
Beim Anblick des dämlichen Gesichtsausdruck Raymonds lachte sie laut auf und stahl sich davon. „Vielen Dank auch...", murmelte er und warf Eugene einen Blick zu, „Viel Spaß mit ihrer Verzweiflung!" Dann ging auch er.

Freudestrahlend stürmte Rapunzel vom Schiff. Ein breites Lächeln auf den Lippen. Ohne groß nachzudenken, rannte sie durch die gesamte Stadt, bis hin zum Schloss, nichts ahnend, was sie dort vorfinden würde.
Eugene hatte Mühe gehabt, ihr zu folgen und als er endlich bei ihr ankam, musste er erst einmal verschnaufen, indem er sich auf seine Knie stützte. Doch als er bemerkte, dass Rapunzel ganz still und angespannt da stand, blickte er besorgt zu ihr auf. „Alles in Ordnung?", murmelte er mitfühlend, wobei er fragend den Kopf schräg legte. „Sicher, ich... bin nur etwas nervös!" Sie lächelte verlegen und trat dann hinein in die Eingangshalle.
Die Wachen bildeten einen langen Gang. Sie alle trugen keine schimmernde, goldene Rüstung, sondern tiefes, trauriges Schwarz. Beinahe kam es ihr so vor, als verfinsterte sich der Raum dadurch erheblich. Rapunzel schluckte. Diese Atmosphäre gefiel ihr gar nicht.
„Kannst du... schon mal vor in unser Zimmer gehen?", fragte sie an Eugene gewandt, „Ich will nur kurz 'was erledigen." Sie schritt die Treppe hinauf und bog dann in einen Seitengang ein.
Rapunzels Füße trugen sie wie von selbst ins Zimmer ihrer Eltern. Dort empfingen sie zugezogene Vorhänge und ein leeres Bett. Absolut nichts deutete darauf hin, dass hier einst Leute gehaust hatten.
Ihr Blick fiel auf ein riesiges Laken, in der Ecke des Raumes, das mit seinen Kurven so aussah, als läge etwas darunter. Vorsichtig, von Neugier getrieben und ohne jegliche Vorahnung, näherte sie sich dem Laken. Sie hob es vorsichtig an und erstarrte.
Trübe, leblose Augen starrten sie an. Und die Körper ihrer Eltern, waren kalt und steif.
Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, während ein lauter Schrei aus ihrer Kehle drang und das Schloss erfüllte. Und noch bevor der Schock ihre Glieder verlassen hatte, strömten Tränen über ihr Gesicht und sie legte schluchzend ihren Kopf auf der kalten Brust ihres Vaters ab, in der nun kein Herz mehr schlug.

* * * *

Währenddessen war Eugene nichtsahnend in die andere Richtung des Flures, den man durch die lange Treppe erreichte, abgebogen, denn in dieser Seite des Flures befand sich ihr gemeinsames Zimmer.
Er öffnete die große, weiße Tür mit goldener Einfassung, die in den Raum führte und schmiss sich stöhnend auf das prächtige Himmelbett, in dem er und Rapunzel schon so oft nebeneinander geschlafen hatten. Doch nach wenigen Sekunden sprang er auch schon wieder auf.
Eugene ging zum kleinen, von Rapunzel mit Blumen bemalten, Schrank hinüber und holte unter den Kleidungsstücken, die für ihn gedacht waren, er aber noch nie getragen hatte, zwei noch platte Laternen hervor.
Langsam, die Laternen auf den Händen balancierend, schloss er die Schranktüren und ging zum Tisch in der Mitte des Raumes hinüber, wo er die platten Laternen ablegte. „Wenn sie erst wieder leuchten und wir sie in den Himmel steigen lassen, wird sie glücklich sein!", meinte Eugene zufrieden, doch ein wenig zweifeln tat er doch. „Ich hoffe zumindest, dass ich sie wieder etwas aufheitern kann. Nicht nur, weil ihre Eltern gestorben sind, sondern auch, weil ich sie erst gestern so verletzt habe..."
Seine Hände begannen zu zittern und er blickte auf sie hinunter. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich das getan habe...? Ich dachte, ich könnte ihr niemals so etwas antun, doch da habe ich mich wohl in mir selbst getäuscht." Er schüttelte sich und hoffte, dass dadurch auch diese schrecklichen Gedanken fort geschüttelt werden würden.
Komm schon, Eugene, du darfst jetzt nicht wieder in diese Starre verfallen! Rapunzel braucht dich, mehr denn je, das sagte er sich immer und immer wieder in Gedanken auf, damit er die gestrige Nacht endlich verdrängen konnte. Dies gelang dann auch ganz gut, wodurch er erleichtert aufseufzte.
„Eugene!" In der Tür stand Fulvia, eine junge, rothaarige Italienerin, die sich im Schloss um Medizin und kleine Wunden kümmerte, „Könntest du... bitte mitkommen?"
Ihr starker Akzent war nicht zu überhören. Sie fasste ihn schlussendlich einfach an der Hand und zog ihn mit zum Zimmer von Rapunzels Eltern. „Sieh' selbst...", murmelte sie und deutete auf Rapunzel. Ein paar Wachen wollten sie fortzerren, doch sie hielt sich fest, schrie und tritt.
„Warum hört sie denn nicht auf die Wachen? Sie wollen doch nur ihr Bestes, genauso wie wir!", flüsterte Eugene der Rothaarigen zu und sah nochmals durch den Spalt der angelehnten Tür zu seiner Frau hinüber. Erst jetzt bemerkte er die leblosen Körper unter ihr. Es waren die Körper ihrer Eltern.
Der König und die Königin lagen reglos und still auf dem Boden, ihre Hände hatte man ineinander gelegt, so dass sie miteinander verbunden waren.
„Ich meine, ich würde wahrscheinlich auch bei meinen Eltern bleiben wollen – wenn ich denn noch welche hätte. Denn auch, wenn es nur die toten Körper von diesen wären, so wären es doch sie, ihr Abbild...", murmelte er noch, während Fulvia sich neben ihm an die Wand lehnte.
„Denkst du, ich sollte zu ihr? Ihr Gesellschaft leisten?"
„Ich weiß ja nicht?!", murmelte Fulvia und zuckte mit den Schultern, „Vielleicht, muss sie damit alleine fertig werden..."
„Eine Tragödie, oder?" Raymond kam den Gang entlang. „Die Leichen sollten eigentlich in zwei Stunden abgeholt werden!" „Wieso sind sie überhaupt noch da?", fragte Fulvia, „Sie sollten längst weg sein."
„Ach, was macht das schon?" Fulvia lehnte sich zu Eugene hinüber, während Raymond das Schlafzimmer betrat.
„Ist irgendwas passiert? Er ist so komisch...?"
„Äh, ja, das ist 'ne lange Geschichte, aber, vertrau' mir, du willst sie nicht hören!", winkte Eugene rasch ab und schaute dann erneut durch den Spalt der Tür in das Zimmer hinein, worin Raymond gerade verschwunden war.
„Sag' ihnen, sie sollen mich loslassen!", rief Rapunzel. Die Wachen schienen zu verstehen, als Raymond ihnen zunickte und so ließen sie von der Prinzessin ab. Diese rannte sofort wieder zu ihren Eltern und klammerte sich an sie. „Sie sind doch hier!", schluchzte sie, „Warum sagst du mir dann, sie wären tot?!"
„Rapunzel..." Raymond kniete sich neben sie und fuhr ihr vorsichtig mit einer Hand über den Rücken. „Dinge passieren, die Zeit schreitet voran und wir können nichts dagegen tun. Wir werden älter, erwachsen, und plötzlich stellt uns das Leben vor unlösbare Aufgaben." Er schluckte und hielt inne, „Und dann gibt es diese Menschen, die für immer Kinder sein werden."
„Was?"
„Ich weiß, du verstehst es nicht, aber denk' drüber nach, ja?" Er deutete auf Eugene, sprach ihr gut zu und schickte sie dann zu ihm nach draußen. Mit Tränen im Gesicht öffnete sie die Tür und fiel geradewegs in Eugenes Arme.
„Ich will nicht mehr!", murmelte sie leise, „Lass uns aufhören! Dieses Leben hat doch keinen Sinn mehr..."
Seine Hand glitt langsam und sachte über ihren goldenen Schopf. „Ruhig, wir gehen jetzt erst mal in unserer Zimmer! Dann kannst du zur Ruhe kommen und über alles nachdenken. Ich möchte nicht, dass du übereilt handelst...", sprach Eugene hypnotisch auf Rapunzel ein und geleitete sie den Flur entlang, wobei er nicht bemerkte, dass Fulvia ihnen wie ein Schatten folgte.
Als Eugene gerade die Tür schließen wollte, hielt Fulvia eine Hand dazwischen. Mit ernstem Blick sah sie ihn an. „Kümmere dich gefälligst um sie! Sie ist für uns alle wichtig – Nicht nur für dich."
Dann jedoch zog sie ihre Hand zurück und auf ihren Lippen bildete sich ein warmes Lächeln. „Rose erwartet dich in 10 Minuten in der Schneiderei, wegen der Kleidung für die Krönung!" Fulvia knickste noch einmal und verschwand dann zwischen den Wachen, die sich auf dem Flur tummelten.
„Hey, das ist perfekt!", zischte Diantha Eugene zu, „Dann kannst du einen Abstecher beim Schmied machen und einen neuen Ring bestellen."
„Schatz...", ertönte Rapunzels zittrige Stimme, „Du musst noch zur monatlichen Beichte."
Vor ein paar Monaten hatten sich Rapunzel und Eugene darauf geeinigt, dass er jeden Monat einmal beichten würde. Ursprünglich die Idee von Rapunzels Vater, der wollte, dass Eugene endlich seine Schuld einsah.
Meist wurde die Beichte von Adam, einem noch relativ jungen Priester, mit dem Rapunzel sich gut verstand, übernommen.
„Oh man, ich hab' wohl keine Ruhe verdient, aber was soll's? Bin ich wenigstens beschäftigt und krieg' keine Langeweile, nicht?", grinste Eugene verschmitzt und hoffte Rapunzel so etwas aufheitern zu können, doch als dies nicht klappte, schwand seine gute Laune und Besorgnis kehrte in seinen Blick zurück, „Kommst du denn soweit zurecht, wenn ich für ein paar Stunden nicht bei dir bin? Ich möchte nicht, dass du dich nachher alleingelassen fühlst." Er lächelte seine Frau mitleidig an und öffnete dabei schon die Tür des Zimmers.
„Es ist alles okay, keine Sorge!", lächelte sie breit und kramte dann ein paar Pinsel hervor, „Ich hab' ja noch genug Schränke, die bemalt werden müssen." Während sie ein paar Gläser mit Farbe aus dem Nachtschränkchen holte, sah sie über die Schulter noch einmal zu ihrem Mann hinüber. „Grüß' mir Rose, ja?"
„Mach ich!", rief er ihr noch in den Raum hinein, ehe er in den Flur verschwand.
„Gut, dann mach' ich mich mal auf den Weg...!" Damit verließ er das prächtige Schloss und machte sich auf ins Dorf, in dem er seine klägliche Kindheit verbracht hatte, an die er nun gar nicht denken wollte, weshalb er sich rasch diese Gedanken aus dem Kopf schlug und sich auf das Hier und Jetzt konzentrierte.

Frozen & Tangled I: Beware the frozen HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt