35 - Sam

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Mit zugekniffenen Augen taste ich nach der kleinen Verpackung auf dem Nachttisch, aber wider Erwarten kriege ich sie nicht zu fassen. Vorsichtig öffne ich meine Augen und stelle fest, dass mir die Schlaftabletten schon wieder ausgegangen sind und ich mir neue holen muss. Seufzend hieve ich mich aus dem Bett und gehe leicht schwindelig nach unten, um mir Nachschub zu holen.

Als ich gerade an dem Medikamentenschrank angekommen bin, höre ich ein Räuspern hinter mir. "Findest du nicht, dass es mittlerweile mal reicht mit den Schlaftabletten?" ich drehe mich um und sehe Cole mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen. Fast unmerklich schüttele ich den Kopf und drehe mich wieder zu dem Schrank. "Sam, das kann so nicht weitergehen. Das, was du hast, ist kein Jetlag. Seitdem du vor drei Tagen in Galway angekommen bist, hast du nur im Bett gelegen und versucht zu schlafen. Es ist Zeit auch mal wach zu sein." ich tue so, als hätte ich ihn nicht gehört und suche weiter nach der Verpackung. Da tritt Cole hinter mich und hält meine Hand fest. "Was ist los mit dir?" frag er mich und sieht mich besorgt an.

Ich überlege erst, ihn anzulügen und zu sagen, dass alles gut ist, aber ich weiß, dass mein Bruder mir nicht glauben würde. Langsam lasse ich meine Hand sinken. "Ich habs getan. Ich habe schon wieder das gemacht, was Mum und alle anderen von mir verlangen." sage ich leise und ich merke, wie mir eine Träne über die Wange läuft. Cole sagt nichts, er runzelt nur die Stirn und zieht mich dann in eine feste Umarmung. Ich weiß nicht, wie lange wir dort so stehen, aber das war genau das, was ich gebraucht habe.

Wenig später sitze ich auf dem Sofa in eine Decke eingewickelt und mit einer Tasse Tee in der Hand. Cole kommt mit zwei Tafeln Schokolade und einer Tüte Chips dazu. "Dann schieß mal los." fordert er mich auf und setzt sich neben mich. "Matt und ich wollen es nochmal versuchen." sage ich schlicht und rühre gedankenverloren in meinem Tee. "Du und Matt?! Ihr wollt es nochmal versuchen?" wiederholt Cole und sieht mich ungläubig an. "Ist das dein Ernst?" ich nicke. "Ja, wir haben darüber gesprochen und wir finden, dass es das Beste ist, wenn wir uns wenigstens noch eine Chance geben." antworte ich, wohl wissend, dass meinem Bruder das missfällt.

"Und was wird aus Leon? Ich meine, du kannst doch nicht-" "Ich habe ihm schon gesagt, dass ich das beenden möchte." erwidere ich schnell, bevor Cole aussprechen kann. Cole mochte Leon sehr gerne, die beiden haben sich gut verstanden. Als wären sie schon immer Freunde gewesen. "Warum?" fragt Cole leise, man hört an seiner Stimme, dass er traurig ist. "Es ist besser so." sage ich und lächele ihn an, aber ich merke, dass sich schon wieder Tränen ihren Weg über meine Wangen bahnen.

Seit Tagen rede ich mir ein, dass meine Entscheidung die richtige war und es so für alle Beteiligten besser sei. "Das glaubst du doch selber nicht, Sam." mein Bruder schüttelt den Kopf. "Du bist doch nicht glücklich damit." "Muss ich das denn sein?" frage ich ihn und wische die Tränen weg. "Dein Glück ist doch das einzige, was wichtig ist. Alles andere kannst du vergessen." er sieht schon fast verzweifelt aus.

"Mein Glück? Ich war seit Jahren schon nicht mehr so glücklich, wie in den letzten Wochen. Aber was bringt mir das, wenn ich am Ende noch unglücklicher bin, als zuvor? Ich habe mich von Leon getrennt, weil es das einzige war, was richtig war. Selbst Mum hat gesagt, dass ich es beenden soll und jetzt bin ich hier. Weil ich es zuhause nicht aushalte, ich bin praktisch vor Matt geflohen." ich habe mich richtig in Rage geredet und gar nicht bemerkt, dass Cole neben mir mich die ganze Zeit von der Seite beobachtet hat.

"Du weißt schon, dass du dir das nur einredest, oder? Seitdem du denken und reden kannst, sage ich dir immer, dass du nichts auf unsere Eltern geben kannst. Du musst dein eigenes Leben leben und deine Entscheidungen selbst treffen. Es ist egal, was unsere Mutter sagt. Du weißt, ich liebe Mum, aber sie sieht nicht, was du oder ich sehe." nachdenklich sehe ich ihn an. "Was meinst du damit?" "Ich meine, dass sie nicht weiß, was du für Leon empfindest und sie verschließt die Augen davor, was zwischen dir und Matt vorgefallen ist. Sie meint es nicht böse, aber sie hat keine Ahnung davon."

Als ich nichts erwidere redet Cole einfach weiter. "Grace hat letztens zu mir gesagt, dass du dich verändert hast. Du lachst viel mehr und du warst viel lebensfroher. Und ich habe ihr zugestimmt, denn als du das letzte Mal mit Leon hier warst, warst du wie ausgewechselt. Die alte Sam war traurig und man hatte das Gefühl, du warst immer ein wenig depressiv. Ein kleines Mädchen, das gerade ihren Vater verloren hat und einen Ehemann hat, dem sie Folge leisten muss. Aber diese Sam war komplett weg, das Traurige und Depressive war weg und du hast jeden mit deiner Anwesenheit erhellt."

Er macht eine kurze Pause und sieht mich fürsorglich an. "Und heute sitzt du vor mir und ich habe das Gefühl, dass die alte Sam wieder da ist. Ich habe wirklich Angst, dass du dich wieder in dieses Mädchen verwandelst, denn das bist nicht du. Immer wenn du bei Matt bist, wirkst du wie eine leblose Hülle, die keinen Mut zum Leben hat. Und vor drei Wochen warst du ganz anders und ich bin mir sicher, es lag an Leon. Er hat dir die Energie gegeben, die du so dringend brauchtest und es war schön dich so strahlen zu sehen, denn du bist ein Mensch, der allein mit seiner Anwesenheit, jeden im Raum -egal, wo du hinkommst- verzaubern kann."

Gerührt von seinen Worten, sehe ich ihn dankbar an und umarme ihn schließlich. "Es bedeutet mir viel, dass du dich so um mich sorgst und ich schätze deine Meinung wirklich. Aber ich habe mich entschieden, ich habe das gemacht, was alle für richtig halten und ich werde jetzt mit den Konsequenzen dieser Entscheidung leben müssen. Egal, was vorher war."

prisoned - LG8 | jmjmmnyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt