50 - Leon

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Ich starte den Wagen. Meine beste Freundin Sophia neben mir hantiert mit dem AUX-Kabel herum, um Musik mit ihrem Handy anzumachen. "Und wie fühlst du dich?" fragt sie mich. "Erleichtert." antworte ich ehrlich. Nachdem ich mir heute die Angebote in der Geschäftsstelle angesehen habe, habe ich wieder Hoffnung, dass sich alles zum Guten wendet. Christian hat meine Entscheidung sehr bedauert, aber er konnte es wenigstens ein wenig nachvollziehen.

"Was machen wir jetzt?" frage ich Sophia. Sie hat darauf bestanden, mich zu Christian zu begleiten, um mir den Rücken zu stärken. Sie wusste, dass ich mich nicht wohl fühle mit meiner Entscheidung, aber sie hat auch gesagt, dass es das Beste ist, wenn ich mich jetzt auf mich konzentriere und überlege, was ich möchte. Und ich denke, dass es so für alle einfacher ist. Ich muss Sam nicht in der Geschäftsstelle sehen. Dabei habe ich heute sogar gedacht, ich hätte sie gesehen, wie sie schnell das Gebäude verlässt, aber ich muss mich wohl geirrt haben. Was sollte sie heute dort machen?

In den letzten Tagen ist es eigentlich besser geworden. Ich denke nicht mehr so oft an Sam, vor allem weil Sophia ständig bei mir ist und mich ablenkt. Ich bin ihr wirklich dankbar, für das was sie für mich macht. All die Jahre, in denen wir uns nicht gesehen haben, habe ich sie vermisst, ohne es wirklich zu bemerken. Wir haben so viel Zeit verschwendet, aber diese Zeit können wir jetzt wieder aufholen. Seit der ersten Minuten, in der wir uns trafen, war alles wie früher. Wir reden viel miteinander, lachen und unternehmen verschiedene Sachen zusammen und uns wird dabei niemals langweilig.

"Fahr hier links. Ich möchte dir etwas zeigen." sagt Sophia und lächelt mich an. Ich folge ihrer Anweisung und wenig später parke ich auf einem abgelegenen Parkplatz mitten in einem Waldgebiet. "Was wollen wir denn hier?" frage ich sie. "Das wirst du schon sehen." antwortet sie, dann nimmt sie meine Hand und zieht mich zu einem kleinen Weg, der in den Wald führt. "Und du bist dir sicher?" frage ich sie abermals und Sophia nickt.

Nach einem zehnminütigen Fußmarsch kommen wir zu einer großen Wiese, mitten im Wald. Bis auf einen einzigen Baum ist das weite Feld kahl und das Gras geht uns bis weit über die Knöchel. Der Wind fegt uns entgegen. Obwohl wir erst Mitte Februar haben ist es erstaunlich warm, deshalb habe ich meinen Mantel nicht zugeknöpft. Er fliegt in alle Richtungen und trifft Sophia, die mich immer noch mitzieht. Sie lacht und ich steige in ihr Lachen ein.

Als wir an dem Baum angekommen sind, erblicke ich ein Baumhaus in den Ästen des Baums und plötzlich fällt mir alles wieder ein. Sophia und ich haben früher das Baumhaus zusammen mit unseren Geschwistern gebaut. Es war unser Treffpunkt. Wir sind fast jeden Tag hergekommen, haben hier gepicknickt oder Fußball gespielt. Manchmal haben wir auch Stunden einfach nur hier gesessen und geredet. Der Ort enthält so viele schöne Erinnerungen.

"Weißt du noch damals, als wir hier immer Verstecken mit Liv und deinem Bruder gespielt haben?" frage ich sie begeistert. "Ja, klar weiß ich das noch." Sophia nickt lächelnd, aber sie scheint ein wenig abwesend. Ich gehe um den Baum herum, das Baumhaus sieht zwar ein wenig marode aus, aber immer noch begehbar. Vorsichtig taste ich das Holz ab und lehne mich ein wenig gegen den Baum, um seine Stabilität zu testen.

Offensichtlich ist der Baum doch nicht mehr so stabil, wie er aussieht. Ich sehe zu Sophia und bemerke, dass sie mich fröstelnd beobachtet. "Alles okay?" frage ich sie. "Ja, alles gut." sie zwingt sich zu einem Lächeln, während sie immer noch nervös auf der Stelle tritt. "Warum hast du mich hergebracht?" ich trete einen Schritt zu ihr und lege ihr einen Arm um die Schulter, damit ich sie ein wenig wärmen kann.

"Ich dachte, die Erinnerungen würden dir vielleicht ganz guttun. Jetzt, wo du das alles bald nicht mehr sehen wirst." sie guckt betreten auf ihre Füße und nimmt wieder einen Schritt Abstand. Sie belastet offenbar mein Wechsel sehr. "Sophia, ich-" "Nein, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Es ist deine Entscheidung und ich werde dich nicht umstimmen. Ich werde es nicht mal versuchen. Ich habe dich auch aus einem anderen Grund hierhergebracht." sagt sie leise und meidet meinen Blick.

Sie ist anders. Anders als in den letzten Tagen. Ich habe es bereits heute Morgen bemerkt, als wir in der Geschäftsstelle waren. Es schien, als sei sie nicht ganz bei der Sache, als wenn sie etwas belasten würde. Ihre Laune scheint sehr unbeständig und irgendwie habe ich das Gefühl, dass es alles meine Schuld ist. Dabei habe ich Sophia gerade erst wiedergetroffen. Geht ihr mein Wechsel tatsächlich so nah? Sophia tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen sieht auf den Boden. Abermals nimmt sie einen Schritt Abstand zu mir.

"Komm wir setzten uns hier hin." ich deute auf den umgekippten Baumstamm, der uns damals schon als Bank diente. Zögerlich folgt sie meinem Vorschlag und ich setze mich neben sie. "Damals war die Welt noch in Ordnung." sagt sie leise und sieht unbestimmt in die Ferne. "Wie meinst du das?" frage ich sie. "Naja, als wir noch Kinder waren, sind wir einfach hierhergekommen und alles war gut; wir haben alles andere ausgeblendet und es gab nur uns." Sophia schüttelt leicht den Kopf.

"Wenn mir alles zu viel wird, dann denke ich oft an die Zeit zurück und manchmal komme ich hierhin und kann uns praktisch immer noch hier spielen sehen. Ich vermisse es wirklich." ergänzt sie. Was sie sagt, macht mich nachdenklich. Früher war wirklich alles anders, vielleicht war es besser, aber da bin ich mir nicht ganz sicher. Macht mich mein heutiges Leben wirklich glücklich oder versuche ich mir nur was vorzumachen? Meine Flucht vor Sam ist nicht unbedingt ein Indiz dafür, dass es mir gut geht. Aber war es damals besser?

Sophia neben mir lacht auf einmal auf. "Was ist?" neugierig mustere ich ihr Gesicht. Ihr Gesichtsausdruck sieht nicht belustigt aus, sondern eher bitter, sogar ein wenig zynisch. "Ach nichts, es ist nur..." sie schüttelt ihren Kopf. Ironisch zuckt sie mit den Schultern. "Weißt du, früher, da war ich so lange in dich verliebt und heute sitze ich mit dir hier-" "Du warst in mich verliebt?" frage ich sie überrascht. "Ja und das sogar ziemlich lange. Ich glaube, jeder hat es bemerkt, nur du nicht." gibt Sophia zu und versucht meinem Blick auszuweichen.

"Warum hast du denn nie was gesagt?" frage ich sie fast vorwurfsvoll. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sophia, als wir jung waren, in mich verliebt war und ich es nicht mitbekommen habe. "Ach das war schon okay, ich wusste ja, dass du früher oder später den Verein wechseln wirst und wir uns dann nicht mehr sehen würden." sie zuckt mit den Schultern. Auf einmal tut es mir unglaublich leid, dass ich sie damals im Stich gelassen habe und sie sich ohne mich durchschlagen musste. Alles, was damals passiert ist, mein hektischer Wechsel und das viele Training, sowie der Medienrummel haben mich die Sachen vergessen lassen, die mir wichtig waren.

"Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Sophia, es tut mir so leid." sage ich. "Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst. Ich wusste damals, was passieren wird und konnte meine Gefühle trotzdem nicht kontrollieren. Außerdem verstehe ich deine Entscheidungen, sowohl die, die du damals getroffen hast, als auch die, die du heute getroffen hast. Es ist nur so, als würde ich dich wieder verlieren." offenbart sie mir.

Wenn ich sie jetzt so ansehe, sehe ich nicht die Sophia, die ich vor vielen Jahren gekannt habe, sondern eine erwachsene, selbstbewusste Frau, die genau weiß, was sie will. Es ist als hätte ihr meine Abstinenz gut getan und dennoch frage ich mich, ob etwas von ihren alten Gefühlen für mich immer noch irgendwo da drin sind.

Sie sieht mich mit einem herzzerreißenden Blick an. In mir kommt ein Gefühl auf, das ich nicht beschreiben kann. Ich bin traurig, weil Sophia so unter mir gelitten hat, obwohl sie in mich verliebt war und gleichzeitig ist dort eine seltsam vertraute Zuneigung, ein Gefühl, dass ich schon lange nicht mehr hatte. Sophia hat mir ihre Gefühle so lange verheimlicht, sie hat nie ein Wort gesagt, wie es ihr damit wohl ging?

Und auf einmal liegen meine Lippen auf ihren, Sophia seufzt auf, schiebe ich alle meine Gedanken und Zweifel zur Seite, lege ihr eine Hand an die Wange, während ich sie näher zu mir ziehe und konzentriere mich nur auf sie.

prisoned - LG8 | jmjmmnyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt