36 - Leon

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Nervös streiche ich mein Hemd noch einmal glatt und betrachte mich im Spiegel. Die Augenringe sind nicht mehr so ausgeprägt, aber immer noch erkennbar. Mit meiner rechten Hand fahre ich über meinen Bart, den ich in den letzten Tagen habe wachsen lassen. Dann drehe ich mich um und ziehe meine Schuhe und meinen Mantel an. Als ich in mein Auto steige, bleibt mein Blick auf dem Beifahrersitz heften.

Dort hat Sam noch vor ungefähr drei Wochen gesessen. Kopfschüttelnd versuche ich den Gedanken loszuwerden du starte den Wagen. Heute steht das Essen mit den Sponsoren an und ich muss leider als Vize-Kapitän anwesend sein. Insgeheim hoffe ich, dass Sam heute Abend auch da sein wird. Aber gleichzeitig kann ich auch nicht den ganzen Abend mit ihr an einem Tisch sitzen.

Unsere 'Trennung' habe ich offen gestanden nicht sonderlich gut verkraftet. Max hat mir zwar immer gut zugeredet, aber es hilft alles nichts. Ich bin diese Woche bereits zwei Mal nicht zum Training erschienen, weil ich einfach keine Energie dazu hatte und mich schlecht gefühlt hab. Es ist nicht so, dass ich zur Flasche greifen würde, aber ich vernachlässige meine Pflichten und ich weiß, dass das nicht richtig ist, aber ich kann nicht anders.

Diese ständigen Gedanken an Sam und der Frust darüber was passiert ist, lassen mich nachts nicht zu Ruhe kommen und tagsüber bin ich einfach nicht richtig wach. Domenico hat mich schon mehrere Male ermahnt, aber es ist mir ziemlich egal. Was will er denn machen? Mich auf unbestimmte Zeit freistellen? Wohl eher nicht.

Ich erreiche das Restaurant und parke meinen Wagen in der Nähe des Eingangs, damit ich nicht so weit laufen muss. Vor der Tür sehe ich bereits Ralf, Domenico und Christian stehen, die sich angeregt unterhalten. "Hallo Leon, schön dass du da bist." begrüßt mich Christian mit einem Handschlag. Ich nicke zur Begrüßung. "Dann lasst uns mal reingehen. Die Sponsoren müssten auch gleich eintreffen. Insgesamt habe ich heute vier Sponsoren mit Begleitung eingeladen. Das heißt, jeder kann sich mit jemandem unterhalten." erzählt unser Manager während wir zu unserem Tisch geführt werden.

Wenig später ertönt hinter uns eine laute Stimme. "Herr Heidel, wie schön Sie zu sehen." Ich drehe mich um, ein älterer Herr mit grauem Haar kommt mit ausgetreckten Armen auf uns zu und fällt schließlich Christian in die Arme. "Guten Abend wünsche ich, Herr Gartmann. Setzen Sie sich, setzen Sie sich." fordert Christian ihn überschwänglich auf. Nachdem Herr Gartmann das getan hat und uns allen seine Frau vorgestellt hat, dreht er sich zu mir. "Junger Mann, mit Ihnen habe ich gleich noch ein Hühnchen zu rupfen." sagt er. Erschrocken sehe ich ihn an, aber da hat er sich schon wieder von mir abgewendet.

Ich komme gar nicht dazu, mir noch weiter Gedanken darüber zu machen, denn bereits die nächsten Gäste trudeln ein und so beginnt eine kleine Begrüßungsrunde. Ich lerne die Gäste bzw. Sponsoren kennen und ich muss sagen, sie sind alle sehr nett. Zu dem Ehepaar Gartmann eben, kommen das Ehepaar Romano und Herr Klur mit seiner Freundin hinzu. Mit den Romanos hat sich Domenico sehr gut verstanden, denn diese sind offensichtlich ebenfalls Italiener. Sandro Klur ist nur wenige Jahre älter als ich, 25 würde ich schätzen, er macht auf mich einen sympathischen Eindruck.

Mit Herrn Klur unterhalte ich mich gerade über unser Trainingsgelände, denn er ist gewillt dort zu investieren. Da öffnet sich die Eingangstür ein weiteres Mal. Ich erstarre. Sam's Mann Matt betritt das Restaurant und wird sofort von Christian in Empfang genommen. Die beiden scheinen sich gut zu verstehen, denn sie lachen auf Anhieb. Ich sehe mich um und stelle fest, dass Sam anscheinend nicht hier ist. Seufzend widme ich mich wieder meinem Gesprächspartner zu, aber mit den Gedanken bin ich komplett woanders.

Wie soll ich denn einen ganzen Abend mit dem Mann von der Frau, die sich gerade von mir getrennt hat, überleben? Na klasse. Das kann ja was werden. "Dann bitte ich Sie jetzt alle, Platz zu nehmen." ruft Christian und klatscht in die Hände. Jeder sucht sich einen Platz. Letztendlich sitze ich neben Domenico und dem Ehepaar Gartmann. Gegenüber von mir wird gerade der Stuhl nach hinten gezogen, ich sehe auf. Matt Dawson setzt sich auf den Stuhl gegenüber von mir.

"So, mein Junge. Dann wollen wir mal das angekündigte Hühnchen rupfen." Herr Gartmann neben mir sieht mich ernst an, aber dann lächelt er. Erleichtert atme ich aus. "Also, du bist der neue Star des Teams. Man hört viele Gerüchte. Bayern, Barca, Manchester United. Wo soll es denn im nächsten Sommer hingehen?" fragt er mich. Augenblicklich spanne ich mich an. Ich habe mich natürlich schon mit einigen Interessen der Vereine beschäftigt, aber ich wollte alles auf mich zukommen lassen und erst nach der Weltmeisterschaft entscheiden, wie es weitergeht. "Bis jetzt sind das alles Spekulationen, wenn etwas feststeht, werde ich das bekannt geben." antworte ich brav.

"Junge, das ist kein Interview. Wir sind hier doch unter uns, außerdem sind wir doch alle Sponsoren." sagt Herr Gartmann. Da wir auch Matt auf unser Gespräch aufmerksam. "In der Tat, immerhin bezahlen wir eine Menge Geld, um Sie in der Arena spielen zu sehen." fügt Matt hinzu und sieht mich herausfordernd an. Ich muss schwer schlucken. Diese Situation ist so absurd. "Naja, ich werde nichts entscheiden, bevor mindestens die Rückrunde beginnt." versuche ich möglichst neutral zu antworten.

"Dann belassen wir es dabei. Aber es würde mich schon interessieren, wie es bei Ihnen so aussieht. Haben Sie Familie hier? Oder eine Freundin?" fragt Matt. Fragend versuche ich aus seinem Gesicht zu lesen, ob er das ernst meint, denn möglicherweise hat Sam ihm etwas erzählt und er will mich provozieren. Aber in seinem Gesicht erkenne ich tatsächlich Neugier. Das heißt, Sam hat nichts erzählt.

"Ich habe meine Familie hier. Wir, also meine Eltern, meine Schwester und ich, wohnen alle in Bochum, das sind circa 20 Minuten von hier." antworte ich. "Und eine Freundin? So jemand wie Sie bleibt doch nicht lange allein?!" Herr Gartmann neben mir lacht. "Nein, ich habe keine Freundin, ich versuche mich auf den Fußball zu konzentrieren." winke ich ab und beobachte die Reaktion von meinem Gegenüber. Aber Matt scheint diese Antwort zufriedenzustellen.

Als das Essen kommt, kann ich erst einmal durchatmen und mich sammeln. Bis jetzt ist alles glatt gelaufen, zum Glück. "Wo ist eigentlich Ihre Begleitung, Mr. Dawson?" fragt Herr Gartmann und lehnt sich interessiert auf den Tisch, sodass niemand außer er, Matt und ich verstehen, welche Antwort nun folgt. "Meine Frau ist zurzeit in Irland bei ihrer Familie. Sie wollte sich eine kleine Auszeit nehmen." erzählt Matt und zuckt mit den Schultern.

"Tja, das muss auch mal sein." erwidert Herr Gartmann und widmet sich wieder seinem Essen. Sam ist im Moment in Irland?! Besucht sie Cole und Grace oder ist die vielleicht bei ihrer Mutter? Ihre Mutter hat ja jetzt, was sie wollte. Da bemerke ich, wie Sam's Mann mich mustert. Fragend sehe ich ihn an. "Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?" sagt Matt. "Ich bin 22 Jahre alt." antworte ich schlicht. "Sie haben mit 22 Jahren schon viel erreicht, Leon. Das ist wirklich sehr beeindruckend." anerkennend nickt er mir zu. "Was sind Ihre Ziele? Was wollen Sie noch alles erreichen?" ich komme mir vor, als würde ich gerade interviewt werden.

"Ich möchte auf jeden Fall, das bestmögliche mit Schalke diese Saison erreichen. Also mindestens wieder Europa League spielen und nächstes Jahr mit dem Nationalteam nach Russland fahren, das wäre ein großer Traum von mir." erzähle ich. Matt will gerade etwas erwidern, da öffnet sich die Eingangstür. Wir drehen uns beide in die Richtung der Tür und mir stockt der Atem.

Da steht sie. Ich in einem bodenlangen Kleid, die Haare hochgesteckt und dezent geschminkt. Sie sieht atemberaubend aus. So wie immer. Mein Herz macht einen Satz. Aber gleichzeitig ist da wieder der Schmerz und dennoch kann ich meinen Blick nicht von ihr abwenden. Schüchtern steht sie dort und sieht mit ihren großen Augen in die Runde. "Mein Flieger hatte Verspätung. Ich hoffe, ich bin nicht allzu spät?!"

prisoned - LG8 | jmjmmnyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt