45 - Sam

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"Und wie geht's dir?" ich stelle meine Teetasse wieder auf die Untertasse und lehne mich leicht in die Kissen. Rachel seufzt und nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse. "Soweit geht es mir ganz gut." antwortet sie und sieht aus dem Fenster. Ich nicke. Irgendwas ist mit ihr, aber sie will mir nicht verraten, was es ist.

Nachdem Matt und ich gestern von dem Interview wiedergekommen sind, habe ich heute beschlossen, Rachel zu besuchen, da ich sie schon ewig nicht mehr gesehen habe und weil ich denke, dass sie eine Freundin im Moment gut gebrauchen kann. Als ich sie angerufen habe, wirkte sie gestresst und krank. Als wenn sie schon ewig nicht mehr geschlafen hätte und als ob sie etwas belastet.

"Soll ich die Teekanne noch einmal holen?" frage ich und Rachel nickt schwach. Also stehe ich auf und mache mich auf den Weg in die Küche. Suchend gehe ich zu der Arbeitsplatte. Normalerweise steht die Teekanne doch immer dort. Aber dann sehe ich sie neben dem Kühlschrank stehen. Ich greife nach der Kanne, da fällt mir ein Foto auf, das an dem Kühlschrank hängt.

Auf dem Foto sind Rachel, Matt und ich zu sehen. Ich weiß noch, wann es war. Matt hatte sich eine ganze Woche Urlaub genommen und hat mit Rachel und mir die ganze Woche verbracht. Dieses Foto ist entstanden, als wir in Düsseldorf im Nordpark ein Picknick gemacht haben. Wir haben Boccia gespielt. Vor uns auf dem Foto liegen noch die verschiedenen bunten Kugeln.

Ich lächele. Das ist bestimmt schon zwei Jahre her, aber schon damals haben sich meine beste Freundin und Matt gut verstanden. Matt hat einen Arm um mich und den anderen Arm um Rachel gelegt. Wir alle drei strahlen in die Kamera und es sieht so aus, als hätten wir eine wirklich gute Zeit gehabt. Und ich muss sagen, dass wir damals auch noch ziemlich glücklich waren. Matt schien nicht so gestresst, ich war halbwegs glücklich und Rachel ist im Gegensatz zu heute richtig gut drauf gewesen.

Ich nehme das Bild ab und gehe mit der Teekanne wieder zurück in das Wohnzimmer. "Wie schön, dass du das Bild aufbewahrt hast." sage ich und zeige es Rachel. Aber Rachel wird auf einmal blass und räuspert sich. "Ja, ich habe es letztens wiedergefunden und dachte, dass ich es doch mal aufhängen könnte." antwortet sie während ich uns beiden einen Tee eingieße. Dann setze ich mich wieder neben sie.

"Wie läuft es eigentlich mit deinem Freund? Willst du ihn mir nicht so langsam mal vorstellen?" frage ich sie und wackele mit den Augenbrauen. "Meinen Freund?" Rachel wird noch blasser, wenn das überhaupt möglich ist. "Habe ich etwas Falsches gesagt?" frage ich sie und sofort tut es mir leid, dass ich das Thema angesprochen habe. "Nein, nein. Ist schon okay, du kannst es ja nicht wissen." winkt Rachel ab. "Es ist nur so, dass wir im Moment nicht besonders viel miteinander reden, weil er ständig unterwegs ist." traurig sieht sie auf ihre Hände.

Mitleidig sehe ich sie an. "Das wird schon wieder. Sieh mal, Matt war früher auch nicht viel da, aber im Moment gibt er sich wirklich Mühe, jede freie Minute zuhause zu sein." sage ich und nehme sie in den Arm. Da fängt Rachel an zu weinen. Sie lässt sich gar nicht mehr beruhigen und ich frage mich, was ich jetzt schon wieder gesagt habe, was sie so extrem emotional werden lässt. Aber ich frage nicht nach, sondern streiche ihr beruhigend über den Rücken.

Als sie sich einigermaßen beruhigt hat, setzt sie sich wieder aufrecht hin und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. "Ich gehe mal kurz ins Bad." sagt sie dann und steht schwerfällig auf. Irgendwie hat sie zugenommen. Ich weiß nicht, ob nur mir das so vorkommt, aber seitdem ich Rachel gesehen habe, hat sie doch ziemlich zugelegt. Und extreme Stimmungsschwankungen hat sie auch. Da kommen mir Patricks Worte wieder ins Gedächtnis. "Vielleicht schwanger."

So wie sie heute drauf ist, könnte das schon sein. Aber warum sagt sie mir nicht, was mit ihr los ist? Rachel hat sich schon früher nichts sehnlicher gewünscht als eine Familie mit Kindern. Warum ist sie dann jetzt so verzweifelt? Hat ihr Freund Schluss gemacht? Oder ist das Kind gar nicht von ihm? Mit mal stellen sich mir so viele Fragen und Rachel möchte mir keine einzige Antwort geben.

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Ich schließe die Haustür auf. Nachdem Rachel aus dem Bad wiedergekommen ist, habe ich mich so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht. Denn Rachel schien auf einmal so müde und energielos, dass ich sie noch ins Bett gebracht habe und dann nach Hause gefahren bin. Ich habe mir aber vorgenommen, der Sache noch einmal in Ruhe auf den Zahn zu fühlen, um herauszufinden, was mit meiner besten Freundin los ist.

"Matt?" rufe ich in das dunkle Haus hinein und bekomme als Antwort nur Stille. Ich gehe ins Wohnzimmer und sehe, das ein Zettel auf dem Esstisch liegt. "Bin auf dem Weg nach Minnesota. Komme in vier bis fünf Tage wieder. Ich liebe dich Matt". Ich lasse den Zettel auf dem Tisch liegen und gehe in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Jetzt bin ich wieder eine ganze Woche allein. Niemand ist im Haus und Rachel will alleine sein.

Ich gehe durch die Zimmer des Hauses. Alles steht feinsäuberlich an seinem Platz und sieht beinahe unberührt aus. Es ist einsam. Verdammt einsam. Ich habe das Gefühl die hohen Wände kommen auf mich zu und erschlagen mich mit ihrer Kälte und Masse. Als könnte ich nichts dagegen tun und diese Einsamkeit würde sich einfach in mich hineinfressen. Niemand ist da, der für mich da ist. Alle haben etwas Besseres zu tun.

Da fällt mir etwas ein. Schnell eile ich zum Telefon und wähle die Nummer meiner Mutter. Sie müsste schließlich noch in Deutschland sein. "Henstridge?" meldet sie sich. "Hey Mom." erwidere ich. "Sam Schatz, was kann ich für dich tun?" fragt sie. "Kannst du vorbeikommen?"  frage ich sie leise. "Aber natürlich, Samantha." in ihrer Stimme höre ich Besorgnis. Ich nicke, obwohl ich weiß, dass sie es nicht sehen kann; dann lege ich auf.

Keine 20 Minuten später steht meine Mutter vor der Tür. In ihrer Hand hat sie eine Packung Tee und zwei Tafeln Schokolade. Wir sehen uns einen Moment in die Augen, dann nimmt sie mich in den Arm. Ich atme auf. Es tut gut von der eigenen Mutter umarmt zu werden. Ich lasse sie herein und koche Wasser für den Tee auf. Wenig später sitzen meine Mutter und ich gegenüber am Esszimmertisch.

"Was ist denn los, Liebes?" fragt mich meine Mutter besorgt. "Ich habe mich einsam gefühlt." gebe ich zu und sehe zu wie mein Teebeutel sich sachte auf dem warmen Wasser bewegt. "Warum das denn? Ich dachte, du und Matt seid jetzt glücklich miteinander." sagt meine Mutter und sieht mich fragend an. Ich schüttele den Kopf. "Matt hat mich in den letzten Wochen wirklich umsorgt, wie noch nie." antworte ich, aber ich wage es nicht sie anzusehen. "Dann verstehe ich das nicht, Schätzchen. Warum fühlst du dich einsam?"

"Ich vermisse ihn." sage ich leise. "Matt? Ich bin mir sicher, er kommt bald wieder." der Blick meiner Mutter wechselt von fragend zu verständnislos. Ich schüttele den Kopf. "Ich meine nicht Matt." erwidere ich. Meine Mutter seufzt und lässt sich in den Stuhl fallen. "Ich dachte, das hätten wir abgeharkt?!" sagt sie und abermals schüttele ich den Kopf. "Das habe ich nie." sage ich fast flüsternd und bemerke wie mir eine Träne über die Wange läuft.

prisoned - LG8 | jmjmmnyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt