57 - Leon

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Mit einem Kaffee in der Hand sehe ich auf den Kalender. Morgen ist es soweit. Morgen fliegt Sam in die USA. Ich gehe weiter zur Spüle und stelle dort meine Kaffeetasse ab. Ich bin eigentlich schon zu spät, aber diese Gedanken in meinem Kopf halten mich davon ab, loszufahren.

Ich habe, seitdem ich den Brief gestern abgeschickt habe, nichts von Sam gehört. Ich weiß nicht mal, ob sie den Brief überhaupt bekommen hat oder ob Matt den Brief möglicherweise abgefangen hat. Vielleicht hat sie den Brief auch gelesen und möchte einfach nichts mehr mit mir zu tun haben.

Heute Nacht lag ich Stunden wach und habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie es jetzt weiter geht und wie Sam sich entscheiden wird. Ich habe ihr zwar gesagt, dass sie nicht auswandern soll, aber ihre Entscheidung steht womöglich schon fest und sie wird ihr Vorhaben wegen mir und meiner Bitte nicht ausschlagen.

Vielleicht hat sie auch gar nicht darüber nachgedacht und sich direkt gegen mich entschieden. Die Presse schlachtet die Geschichte über sie und Matt in allen sozialen Medien aus. Alle wollen erfahren was der weltweit agierende Geschäftsmann und seine Frau machen und warum diese im Krankenhaus war. Die wildesten Gerüchte kamen auf und teilweise waren sie so heftig, das würde ich nicht einmal Matt zutrauen. Ich hoffe einfach nur, dass seine Affäre mit Rachel, Sam's bester Freundin, endlich herauskommt. Einfach weil Sam mir nicht geglaubt hat, als ich ihr davon erzählte.

Ich gehe nach oben um meine Trainingstasche zu holen. Nachdem ich alle meine Sachen zusammengepackt habe und das Haus verlassen habe, mache ich mich auf den Weg zum Vereinsgelände. Dort empfangen mich bereits die Fotografen und Presseleute. Sie wollen wissen, wie ich mich entschieden habe und ob nun wechseln werde oder nicht. Sie haben nämlich davon Wind bekommen, dass ich mich noch nicht vollständig entschieden habe, ob ich wirklich gehe.

Aber diese Entscheidung muss noch einen Tag warten. Mit Sam's Entscheidung steht oder fällt der Deal mit einem anderen Verein. Im Moment habe ich das Vertragsangebot vom FC Arsenal auf dem Tisch liegen und ich bin nicht abgeneigt wieder mit Sead zusammen zu spielen, denn ich vermisse unseren Bulldozer auf dem Platz und zudem ist es sehr schwierig unsere FIFA Matches in verschiedenen Ländern auszutragen.

Das heißt also, fliegt Sam morgen in die USA, tausende Kilometer von mir weg, dann werde ich nach London gehen. Bleibt Sam, dann werde ich wahrscheinlich meinen Vertrag auf Schalke verlängern. Wenn sie weg ist, dann kann ich nicht hier vor mich hinvegetieren, weil mich alles hier an sie erinnert. Kommt sie zu mir zurück, habe ich allen Grund der Welt hier zu bleiben und ich kann hier wieder glücklich werden, bei meinen Freunden, meiner Familie und vor allem mit Sam.

Ich schultere meine Tasche und betrete das Trainingszentrum. Überall laufen wild Trainer, Spieler und Ärzte herum. Ich werde von allen begrüßt, während ich mir meinen Weg zur Umkleide bahne. Alle sind gut gelaunt und man merkt, dass sie das was sie hier tun mit allem Herzblut und aller Leidenschaft, die sie aufbringen können, tun. Hier auf Schalke wird der Fußball gelebt und geliebt. Das ist es, was ich an diesem Verein so schätze. Man opfert sich kompromisslos auf und gibt sein Bestes für den Verein.

Und wenn man sein Bestes gibt, im Training und im Spiel, dann merken das die Fans und unterstützen einen von den Rängen. Ich bekomme jedes Mal Gänsehaut, wenn ich das Stadion betrete und 60.000 Leute schreien und euphorisch diesen Verein unterstützen. Und selbst in Krisenzeiten, wenn es mal eng wird oder einfach nur das Glück ausbleibt, man kann, wenn man sich trotz alle dem gekämpft hat und es dennoch nicht geklappt hat mit dem Erfolg, auf den Support der Tribünen zählen. Diese Mentalität ist einzigartig. Nirgendwo auf dieser Welt, gibt es so treue und loyale Fans, wie hier auf Schalke.

Als die letzte Kurve zu den Kabinen nehme, kommen mir zwei Nachwuchsspieler entgegen. Sie sind vielleicht 13/14 Jahre alt und sehen sich neugierig um. Die beiden erinnern mich an Max und mich, als wir unsere ersten Tage hier hatten und niemanden kannten. Damals haben wir uns in dem riesigen Trakt unter dem Stadion verlaufen und es hat eine ganze Stunde gedauert, bis wir wieder herausgefunden haben. Heute könnte ich den Weg mit verbunden Augen rückwärts laufen.

Ich merke, wie sehr ich diesen Ort liebgewonnen habe und wie sehr sich dieses Fleckchen Erde, das sich Gelsenkirchen nennt, in mein Herz eingeschlichen hat. Ich kenne alles und jeden. Es ist wie mein zweites Zuhause geworden. Es wäre sehr schwer, das alles hinter mir zu lassen. Viel zu oft habe ich hier trainiert, mit meinen Mitspielern gegessen, Karten gespielt oder irgendeinen Quatsch gemacht. Unendlich viele Erinnerungen schießen mir durch den Kopf, während ich durch die Katakomben laufe.

Ich werde sie alle für immer in meinem Herzen behalten, selbst wenn ich morgen einen Vertrag in London unterschreiben sollte. Diese Zeit hier auf Schalke war immens wichtig für mich und hat mich geprägt. Alles was ich bin, habe ich von hier und jeder einzelne Trainer, Betreuer und Mitspieler wird mir im Gedächtnis bleiben.

Ich merke gar nicht, dass ich bereits an den Kabinen angekommen bin, so vertieft war ich in meine Gedanken. Langsam öffne ich die Tür zu unserer Umkleide und vernehme schon von innen die Musik, die eine Mischung aus Latein und Techno darstellen soll. Ich muss grinsen. Wahrscheinlich haben Franco und Naldo mal wieder die Musikbox in Beschlag genommen und da drinnen wird mal wieder getanzt.

Ich liege mit meinem Tipp goldrichtig. Obwohl es erst viertel vor neun ist, wird bereits wieder auf allen verfügbaren Tischen und Bänken getanzt. Franco filmt alles für seine Insta-Storys und lacht dabei aus tiefster Seele, während Naldo und Breel versuchen, Amine und Ralf das Tanzen beizubringen.

Ich gehe zu meinem Platz und beginne mich umzuziehen. Die gute Laune, die in der Kabine herrscht, ist ansteckend und so sitze ich wenige Momente später lachend neben Franco und Calli und klatsche mit den beiden im Takt, während Breel ein Solo hinlegt, das sich gewaschen hat. Da öffnet sich die Tür und ein verschwitzter und pumpender Max stolpert in die Umkleide. Wenn man sich auf etwas verlassen kann, dann darauf, dass Max immer zu spät kommt.

Er lässt sich neben mich fallen und beginnt, den Inhalt seiner Tasche überall zu verteilen. "Du bist ja gut drauf." stellt er halb misstrauisch, halb erfreut fest. "Ja. Die gute Laune in diesem Raum ist anstrengend." erwidere ich und erhebe mich. "Ich dachte, du wärst mehr in Gedanken, wegen... Du weißt schon." sagt er und sieht mich bedeutend an. Ich nicke. "Das bin ich auch. Aber es hilft ja nichts. Jetzt kann ich nichts mehr tun, außer zu warten. Es ist Sam's Entscheidung."

Max nickt, als könnte er die Situation zumindest nachvollziehen. "Hast du dich denn schon entschieden was du machst, sobald du weißt, was Sam macht?" fragt er mich. "Es ist eigentlich ganz einfach. Bleibt Sam, bleibe ich hier. Geht Sam, wechsele ich wahrscheinlich nach London zu Arsenal." erkläre ich schulterzuckend. Ich habe Max diesen Plan bestimmt schon hundert Mal erzählt, aber der Idiot kann offensichtlich nicht richtig hören. Da sehe ich Max traurigen Blick. "Wenn du gehst, dann gehe ich auch. Kate ist sowieso oft in London, dann kann ich auch gleich nach England wechseln." sagt er dann trotzig.

"Max, warte doch erstmal ab." versuche ich ihn zu bremsen. "Du weißt genauso gut wie ich, was du an diesem Verein hast. Denk' genau darüber nach, bevor du eine Entscheidung triffst. Und möglicherweise bleibe ich ja auch, wobei meine Chancen im Moment eher verschwindend gering sind." sage ich und senke den Blick.

Ich will, dass sie sich für mich entscheidet. Aber ich will auch, dass sie glücklich ist und neu anfangen kann; und das kann sie nur in den USA. Der morgige Tag wird weitreichende Konsequenzen für alle von uns haben. Und ich bete dafür, dass es für alle von uns gut ausgeht.

Max neben mir steht auf und klopft mir auf die Schulter. Die Kabine hat sich geleert, alle sind bereits raus auf den Platz gegangen, nur Max und ich sind noch hier. "Dann liegt es jetzt alles an Sam. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass sie zur Besinnung kommt und morgen nicht mit ihm fliegt. Ehrlich, das tue ich. Für dich und für sie." sagt er und geht dann zur Tür, während ich immer noch auf der Bank sitze. "Das hoffe ich auch." sage ich, mehr zu mir selber, denn es ist niemand mehr hier. "Ich wünsche mir nichts sehnlicher als das." füge ich leise hinzu und erhebe mich dann ebenfalls.

prisoned - LG8 | jmjmmnyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt