Ich mochte dich nicht mal besonders!

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Cassie POV:

Meine Tage sind gezählt. Die Urne hält der Pfarrer in der Hand und alles was ich in der Hand halte ist eine rote Rose. Laut dem Theologen sollen wir sie in das Grab werfen und dann Erde darüber schaufeln. Er sagte, das wäre ein angemessener Abschied von einem geliebten Menschen. Er sagte allerdings auch, dass der Tod etwas freudiges sei. Die Sterbenden hätten was erreicht und ihre Spuren auf der Welt hinterlassen. Ich sehe das ein wenig anders. Alle Menschen, die unabsehbar sterben, sind gemein, grausam, wenn nicht sogar radikal.

,,Catherine!", fordert mich der Pfarrer auf. Mit einer unauffälligen Handbewegung deutet er mir, die Rose in das Grab zu werfen. ,,Sie sind an der Reihe." Er legt mir eine Hand auf die Schulter, grundsätzlich eine beruhigende Geste. Ich folge ihm. Als mir die Urne wieder unter die Augen tritt, schluchze ich kurz auf, reiße mich dann allerdings zusammen. Die Urne wird in das Grab abgelassen und dann lasse ich die Rose fallen. Im Publikum fängt eine Frau bitterlich an zu weinen. Auch ich Ringe um Tränen, vergieße jedoch keine Einzige. Schnell, vielleicht zu schnell, nehme ich die kleine Schaufel in die Hand, häufe etwas Erde aus der Schubkarre darauf und kippe sie in das Grab. Danach lasse ich die Schaufel achtlos auf den Boden fallen. Ein letzter Blick und es reicht mir. Vollkommen traumatisiert drehe ich mich um und suche in der Menge nach Shawn. Ich brauche dringend seine Autoschlüssel.

Ich kann das nicht.
Ich kann das nicht.
Ich kann das nicht.

Bei ihm angekommen, packe ich ohne ihn auch nur vorgewarnt zu haben, in die Hosentasche und greife nach seinen Autoschlüsseln. Ihn scheint es nicht zu stören, doch als ich gerade gehen will, packt er mein Handgelenk und flüstert: ,,Sicher, dass du fahren kannst?"

Ich nicke bestürzt. Dann nimmt er mich noch einmal genauer in Augenschein, lässt schließlich mein Handgelenk los und nickt mir zu.

Die Schlüssel zwischen meinen Fingern klimpern, als ich tränenverströmt in das Auto direkt auf dem Parkplatz vor Moms, ich korrigiere MEINEM Haus, steige. Ich trete augenblicklich ins Gas, nachdem ich den Motor gestartet habe. Auf dem gesamten Weg bis zu dem, meinem Haus, überfahre ich ungefähr vier rote Ampeln, fahre fast zwei Passanten an und denke viel zu viel nach.

Ich kann das nicht.
Ich kann das nicht.
Ich kann das nicht.
Ich kann das nicht.
Ich kann das nicht.

Das Haus ist in einer wohlhabenden Gegend. Es ist gruselig, dass ich noch nie davon gehört habe, noch nie hier war. Was ist, wenn da drin Menschen leben und sie das vermietet haben. Meine Eltern, auf einmal komplett fremde Menschen. Die Schlüssel drehen sich beinahe selbstständig im Schloss der schweren Holztür des Hauses. Das Haus scheint riesig, doch es wirkt auch sehr alt. Der Bau nicht, aber die Möbel stammen wahrscheinlich aus dem 19. Jahrhundert. Zuerst gelange ich durch den langen Flur mit alter Blümchentapete in das Wohnzimmer. Ein gelbbrauner Trink steht auf dem Beistelltisch neben dem Sessel. Er sieht aus wie Whiskey. Ich rieche kurz daran. Nein, kein Whiskey. Ich würde auf abgelaufenen Wodka wetten. Deutung: Das hier ist der Trinkplatz meiner Eltern vor einem Jahrzehnt gewesen. Der nächste Raum ist interessanter. Ein Esszimmer. Durchwühlt mit sämtlichen Papieren. Sie liegen überall. Als ich eines davon vom Boden aufhebe und es kurz überfliege, bin ich stutzig.

Bestätigung der Abtreibung.

7. Schwangerschaftswoche

Unterziehung eines therapeutischen Gutachten

Mutter: Maria Clarke

Vater: Matthew McAllister

Wtf? Diese Strichpunkte schießen mir durchs Auge ins Herz.

Datum: 15.06.2001

In meinem Gehirn herrscht Sendepause. Es funktioniert einfach nichts. Ich kann mir einfach keinen Reim darauf bilden. Also lege ich es schweigend und geschockt zurück auf den Boden und forste mich weiter durch die Papierruine. Die nächsten Blätter, die ich aufhebe, sind unwichtige Rechnungen. Ich suche solange bis ich etwas finde, das mir weiterhilft.
Dann:

Adoptionsurkunde

Kendrick Wincenton

03.05.1995

Adoptionsleiter: August Gray

Dann ist da noch ein Bild. Und ich bin geschockt. Ein Bild von Will als Baby. Soll das heißen, dass Will adoptiert ist? Soll das heißen, dass die beiden uns noch viel mehr verschwiegen haben, als wir wussten. Krass...

Und dann...
Plötzlich!
...reimt sich alles in meinem Kopf zusammen.

Meine Mutter hatte eine Affäre mit Mr. McAllister, während sie mit Dad verheiratet war. Dann ist sie von ihm schwanger geworden und hat abgetrieben.

Und Will ist adoptiert?

Ich habe absolut keine Ahnung, wie das alles zusammenpassen soll.
Und ohne, dass ich es wirklich mitbekomme, fange ich an zu weinen. Um Will und um Dad. Und um die verkrüppelte Familie, die nie so verkrüppelt gewirkt hat, von der niemand wusste, wie kaputt sie war.

...

Das gesamte Erdgeschoss ist geputzt. Alle Papiere liegen im Esszimmer geordnet und chronologisch sortiert auf dem Esstisch, all die vergammelten Lebensmittel sind entsorgt, es ist sogar gesaugt. Die obere Etage würde ich mir ein anderes Mal vornehmen. Aus einen banalen Grund schaffe ich es nicht, die Treppe raufzugehen. Unten ist nichts wirklich kostbares. Bis auf all die Papiere. Allerdings wundert es mich trotzdem, dass noch niemand versucht hat, hier einzubrechen. Gute Gegend, alleinstehendes Haus, voll mit historischen Wertgegenständen. Ich frage es mich wirklich.

Ich lächle resigniert, als ich einen Blick auf das geordnet aufgeräumte Erdgeschoss schmeiße. Das Haus ist nicht übel. Ich denke, dass Dad es als Arbeitsplatz benutzt hat.

,,Du hast es gehasst, wenn Dad seine Arbeit zuhause gemacht hat. Stimmt's, Mom?" Irgendwie warte ich auf eine Antwort von da oben. Aber nein, keine Antwort. ,,Du hast ihn immer so angeschrien, als er angefangen hat, Patientenunterlagen aus seiner Tasche zu nehmen. Dabei musstest du dann meistens eh zur Nachtschicht." Ich lache unter Tränen auf. Es ist kein glückliches Lachen, es geht eher als Schluchzer durch. ,,Ich weiß nicht, was los ist. Ich mochte dich nicht mal besonders. Aber du warst meine Mom."

Ich lasse mich auf einen der Sessel gegenüber des Kamins im Wohnzimmer fallen und schließe die Augen, fange wieder augenblicklich an zu lachen. Diesmal aber wirklich. Als hätte ich einen Lachflash, reiße ich meine durchtränkten Augen auf.

,,Wieso tust du mir das an?" Ich lehne mich zurück. ,,Ich wette mit dir, dass du mich auch nicht mochtest. Ist es nicht so? Oder liegt es daran, dass Will adoptiert wurde und du ihn deshalb lieber mochtest? Weil er ein Wunsch war? Weil ich vielleicht ein Unfall war. Oder bin ich auch adoptiert wurden?"

Ich schreie ins vollkommende Nichts. Niemand kann mich hören. Niemand wird mich in diesem Haus finden. Ich schreie einfach. Es sind nicht mal Wörter, die ich schreie. Nur Vokale, wie ,,Ahhhhhh".
Und dann fällt mir etwas ein.

Der Brief.

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Guten Abend zusammen👋🏻

Tut mir leid, dass erst heute anstatt gestern ein Kapitel kommt. 🥺
Ich bin zurzeit nur im Urlaub und versuche die Sonne in Spanien zu genießen🤯

Hoffe euch gefällt das Kapitel 😌
Gute Nacht 💤😴

To be continued...❤️

Like to be you [Shawn Mendes FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt