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Cameron:



Nachdem Dad und Mum sich versichert hatten, dass es Noah gut ging, meinten sie, dass ich auf ihn aufpassen sollte und gingen trotzdem mit ihren Freunden zu Abendessen.

Ich fand das okay, immerhin war ich ja da und konnte sie einfach anrufen, falls etwas sein sollte. Was mich weniger zufrieden stellte war eher die Tatsache, dass alle so taten, als sei Noah nur umgekippt und das wär's. Aber so einfach war das nicht. Das wussten wir beide.

Er hatte vor Mum und Dad doch allen Ernstes behauptet, erst heute Morgen etwas gegessen zu haben. Doch das war gelogen. Er hatte seine Semmel nicht gegessen, sondern sie nur auf den Teller klein gepröselt und diesen dann weggeräumt, ehe Mum und Dad es gesehen hatten.

Er verkaufte uns für dumm, er glaubte, uns verarschen zu können, doch nicht mit mir.

Noah saß gerade mit mir auf dem Sofa und wir sahen uns einen Film an.

Das Chemie-Lernen machte keinen von uns mehr so richtig an und es war auch nicht wichtig.

Es zählte nur, dass es Noah gut ging und dafür musste ich sorgen.

„Noah" Ich sprach seinen Namen ernst aus, da ich es war. Ich machte mir Sorgen.

Er sollte wissen, dass ich mich nicht mit seinen Lügen zufrieden gab, sowie meine Eltern.

Er drehte den Kopf zu mir, sah mich fragend an und sah dabei so unschuldig aus, dass ich ihm diese Vorwürfe gar nicht machen wolle, doch es musste sein.

Er konnte so unschuldig aussehen, wie er wollte, es änderte nichts daran, dass er ein Lügner war. Ich sagte auch nicht immer die Wahrheit und ich fand, es gab Situationen, in denen Lügen sogar sehr angebracht waren, doch was er da abzog, ging echt gar nicht. Es betraf seine Gesundheit und da hörte es einfach für mich auf.

„Sei ehrlich", forderte ich. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich schon, bevor ich die Forderung ganz ausgesprochen hatte.

„Wann hast du das letzte Mal was gegessen?"

Er schluckte und wandte den Blick ab. Fast schon beschämt sah er auf seine Hände, die in seinem Schoß lagen. Das hieß, die Antwort würde mir nicht gefallen.

„Bitte. Sei ehrlich zu mir" Ich klang schon einfühlsamer, denn ich war so richtig verzweifelt.

Diese Sache zog sich nun schon über Monate. Wer wusste denn schon, wie oft er umgekippt war, ohne dass wir es mitbekommen hatten? Es war pures Glück, dass das passiert war, als er in meinem Zimmer gewesen war, sonst würde ich mich immer noch damit trösten lassen, dass er ja fast erwachsen war und schon wusste, was er da tat.

Doch eben das tat er nicht.

Er antwortete nicht mit Worten, sondern rutschte auf meinen Schoß, um mich zu umarmen.

Ich kleine... Er versuchte, mich zu beeinflussen, das wusste ich genau und es war verdammt schlau von ihm, denn es funktionierte. Er wickelte mich um den kleinen Finger, mit voller Absicht.

„Unser Frühstück bei Ken. Einen Toast", murmelte er dann leise.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf, legte beschützend die Arme um ihn. „Das war gestern Morgen, Noah. Das ist über 40 Stunden her.

Er drückte sich enger an mich und flüsterte: „ich weiß"

Es war kein Wunder, dass er so dünn war. Es war der Beweis.

Ich hatte geglaubt, ich würde ihm helfen, damit es ihm besser ging, doch es hatte sich nichts geändert. Er hatte immer noch dieses gestörte Essverhalten, was bewies, dass es ihm immer noch scheiße ging und ich rein gar nichts daran ändern konnte.

„Bist du sauer?", nuschelte er an meinen Hals.

Ich drehte das Gesicht zu ihm und küsste seine Stirn.

Es stellte viel mehr Leid in dieser Tat als sonst.

Ich zog ihn näher an mich heran. „Ich bin nicht sauer. Ich habe Angst, Noah. Das..." ich schluckte. „Das ist nicht gesund, was du das tust. Es wird dich umbringen"

Er seufzte leidend, murmelte: „Manchmal weiß ich gar nicht, ob ich überhaupt noch am Leben bin."

Dieses schmerzende Etwas in mir zog sich noch enger zusammen. Ich wollte sowas nicht von ihm hören, doch wusste, dass das die wenigen Momente waren, in denen er mir ehrlich seine Gedanken und Gefühle mitteilte.

Er litt, er war gefangen und seine inneren Dämonen hatten ihn im Griff.

Ich hatte mich bisher als den befreienden Engel aufspielen wollten, doch nun sah ich, dass das nicht ausreichte. Ich musste so viel mehr für ihn tun. Aber das wichtigste war, ich durfte nicht aufgeben. Keiner von uns durfte das. Denn das würde sein Ende bedeuten und mit diesem auch meines.


Das Herz meines Bruders (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt