Bomben | 1

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Während der Fahrt zu meinem Apartment herrschte eine bedrückende Stille. Ich saß neben Dean, der mir die kalte Schulter zeigte. Jeder in diesem Wagen gab sich besondere Mühe absolut unbeteiligt und kalt zu wirken. Vor allem Vincent wollte sich nicht anmerken lassen, dass er gerade an jedem anderen Ort auf dieser Welt lieber wäre als hier. Allerdings konnte ich sogar von der Rückbank aus sehen, dass er seine Zähne so fest aufeinander gepresst hatte, dass seine Kieferknochen hervortraten.

Gedankenverloren sah ich aus dem Fenster und beobachtete die Menschen und Gebäude, die an mir vorbei zogen. Die Stadt kam mir auf einmal viel größer vor als noch vor zwei Wochen. Die Menschen da draußen hatten keine Ahnung welches Privileg sie genossen. Das Privileg der Freiheit. Doch selbst ich, die immer so viel Wert auf ihre Freiheit und Selbstständigkeit gelegt hatte, hatte keine Ahnung gehabt, was die alltäglich gewordene Frage wann man wohin ging, tatsächlich bedeutete. Nur derjenige, der das tiefste Unglück empfunden hat, ist fähig, das höchste Glück zu begreifen und zu würdigen, wie schon Edmond Dantès, der Graf von Monte Christo, erkannt hatte. Ich begriff nur das annähernde Ausmaß dieser Worte, aber ich begann zu verstehen.

„Ist es wirklich nötig, dass mich zwei Teams zu meinem Apartment eskortieren?", fragte ich schließlich und brach das Schweigen.

Dean schnaubte. „Du überschätzt deinen Wert, Jordan. Wir verschwenden doch nicht die Zeit von zwei Teams um dich herum zu chauffieren", meinte er zynisch, „Mit dir werden wir ganz alleine fertig."

„Wenn der schwarze Volvo hinter uns nicht zu dem FBI gehört, bin ich möglicherweise von größerem Wert als du glaubst."

Nolan sah mich endlich an. „Welcher schwarze Volvo?"

„Der, der uns schon seit der Rose-Street folgt."

Kingston sah in den Rückspiegel und als er das Auto entdeckt hatte, bog er nach rechts ab, nur um festzustellen dass er uns tatsächlich folgte. Er wiederholte das Experiment noch einige Mal, aber der Volvo ließ sich nicht abschütteln. Doch King hatte einen Fehler gemacht. Wir fuhren jetzt auf einer so gut wie leeren Straße und der Wagen war direkt hinter uns.

Plötzlich beschleunigte er und bevor Ross Kingston reagieren, geschweige denn ausweiche konnte, knallte er mit voller Wucht in unsere Seite. Ich hörte das ekelhafte Schleifen von Lack auf Lack, im nächsten Moment wurde ich nach vorne geschleudert. Mein Gurt hielt mich zurück und presste mich zurück in den Sitz. Reifen quietschten und beinahe in Zeitlupe sah ich wie der Agent die Kontrolle über den Wagen verlor. Er stellte sich quer und durch die Wucht der Geschwindigkeit, die wir hatten, blockierten die Reifen und kurz darauf hingen wir in der Luft.

Und dann ging alles plötzlich wieder so schnell, dass ich kaum hinterherkam.

Der Aufprall auf dem Boden riss mich aus der Zeitlupe und zurück in die Realität. Mein Kopf wurde zur Seite geschleudert und ich knallte mit voller Wucht gegen die Glasscheibe.

Danach war alles hinter einem dichten Nebel verborgen. Ich bekam nur am Rande mit, dass das Auto heftig auf dem Asphalt aufschlug und auf dem Dach liegen blieb. Benommen hing ich in meinem Gurt. Alles drehte sich und meine Schläfe pochte unangenehm. Nur langsam nahm die Benommenheit ab. Ich kniff meine Augen zusammen und schaffte es meinen Kopf zu drehen. Neben mir erkannte ich Nolans blonde Haare. Seine Augen waren geschlossen, er war wohl ohnmächtig geworden. Ihn hatte es wohl am schlimmsten erwischt. Der Volvo hatte uns von rechts gerammt und die Tür war genau an der Stelle eingedrückt, wo er gesessen hatte. Etwas Blut tropfte von der linken Seite seines Gesichts, aber soweit ich beurteilen konnte, waren es nur ein paar Kratzer von der gesplitterten Scheibe.

Ich sah nach vorne. Kingston versuchte sich gerade von seinem Gurt zu befreien und auch Vincent bewegte sich. Erst jetzt nahm ich wieder den Anschnallgurt war, der in meine Schulter schnitt und auf meinen Brustkorb drückte. Ich hob meine Hand und begann langsam nach dem Knopf zum Abschnallen zu tasten, als neben mir plötzlich die Tür aufging und jemand nachhalf.

Brutal knallte ich auf den Boden, mitten in die Glasscherben und Plastikteilchen, die sich von der Innenausstattung gelöst hatten. Mein Kopf begann wieder zu dröhnen und meine Sicht verschwamm erneut. Als nächstes packten mich zwei große Hände und zogen mich unsanft aus dem Trümmerhaufen. Ich richtete meinen Blick nach oben und sah direkt in das Gesicht des Mannes, zu dem die Hände gehörten. Noch immer sah ich nur verschwommen, aber eines wurde mir trotzdem sofort klar: Ich kannte ihn nicht. Es war weder Vincent, noch Kingston oder Nolan.

Auf einmal waren mein Blick und meine Gedanken wieder glasklar und ich begann mich zu wehren. Ich versuchte mich loszureißen, doch die Hände klammerten sich nur noch fester um meine Arme. Hilfesuchend blickte ich mich um und blieb schließlich bei Vincent hängen. Als er mich sah, schnallte er sich mit einer schnellen Bewegung ab und versuchte anschließend die Tür aufzustemmen, doch sie hatte sich durch den Aufprall so verformt, dass sie klemmte.

Der Mann hinter mir hatte mich inzwischen auf die Beine gezogen und zerrte mich mit aller Gewalt in Richtung des Volvos, bei dem lediglich der rechte Frontflügel ein wenig beschädigt war. Er zog mich zu der geöffneten Tür und ich stemmte mich dagegen, als ich auf einmal den Lauf einer Waffe an meiner Seite spürte. „Rein da.", knurrte er, aber ich dachte nicht mal daran. Ich wehrte mich weiter. Ich wusste, dass er mich lebend brauchte, sonst hätte er mich längst getötet als ich hilflos im Gurt gehangen hatte.

Wieder flog mein Blick zu Vincent, der inzwischen versuchte die Scheibe einzutreten. Er würde nur noch einige Sekunden brauchen, doch auf einmal wurde mir klar, was sie mit ihm machen würden wenn er ihnen in die Quere kam. Angesicht dessen hörte ich auf mich zu wehren und ließ mich von ihm ohne großen Widerstand auf die Rückbank des schwarzen Volvos werfen. Er setzte sich neben mich, knallte die Tür zu und der Fahrer raste los. Durch die verdunkelten Scheiben sah ich wie sich Vincent endlich befreite und mir fluchend nachsah.

Ich drehte mich wieder nach vorne und setzte mich aufrecht hin. Neben mir waren nur der Fahrer und der Mann neben mir im Wagen. „Es freut mich Sie kennenzulernen, Miss DeLeón", sagte ersterer und sah mich durch den Rückspiegel an.

„Und mit wem habe ich das Vergnügen?", fragte ich und gab mir Mühe möglichst lässig zu wirken und mir die Angst nicht anmerken zu lassen.

„Wir sind Mitarbeiter des Herrschers. Mehr müssen Sie nicht wissen. Er möchte Ihnen eine Nachricht übermitteln."

„Ich hoffe er weiß, dass es dafür freundlichere Methoden gibt." Ich klopfte mir etwas Staub und Glas von meiner Jacke, als mir der Mann neben mir ein Handy hinhielt. Ich nahm es ihm aus der Hand und hielt es mir ans Ohr.

„Selbstverständlich weiß ich das, Miss DeLeón", sagte eine bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Stimme, „Aber wo bleibt da der Spaß?"

Ich unterdrückte ein Schnauben. „Was wollen Sie?"

„Ich möchte, dass Sie Jordan eine Nachricht überbringen. Und dem FBI auch, wenn Sie schon mal dabei sind."

„Ich bin kein Postbote."

„Oh nein, natürlich nicht. Ich bin mir sowieso sicher, dass Jordan es weiß, sobald Sie es wissen, Kate."

Als ich die Anspielung verstand, musste ich mich beherrschen nicht scharf die Luft einzuziehen. Das war die endgültige Bestätigung dafür, dass der Herrscher wusste, wer ich wirklich war. Und im Gegensatz zu dem FBI wusste er auch von meinem alter Ego Kate.

„Hören Sie gut zu, Kate, sonst werde ich Sie für das verantwortlich machen, was passieren wird."

„Und wenn wir sie nicht finden?", wollte ich wissen als er mit seiner Ansprache fertig war.

„Dann wird es Tote geben."

Das Telefon knackte und die Verbindung war unterbrochen.

Ich brauchte einige Sekunden um das ganze Ausmaß dieser Nachricht zu begreifen. Es war absolut krank. Die Stadt war riesig. Wie sollten wir alle innerhalb der kurzen Zeit finden?

„Nun, Miss DeLeón, es war mir eine Ehre Sie zu kennenzulernen", sagte der Fahrer schließlich und riss mich aus meinen Gedanken. Der andere nahm mir das Handy aus der Hand. „Aber wir müssen uns hier leider von Ihnen trennen." Bevor ich auch nur überlegen konnte, was er damit meinte, riss der Mann neben mir die Tür auf, packte mich und warf mich einfach aus dem fahrenden Wagen.

Ich prallte mit voller Wucht auf dem Asphalt auf. Instinktiv zog ich meine Arme an den Körper, den Kopf ein und rollte mich ab. Doch kaum war ich mitten auf der Straße liegen geblieben, musste ich schon wieder aufspringen und mich mit einem halben Hechtsprung auf den Gehweg retten, da ich sonst von einem Lastwagen überrollt worden wäre. Die Passanten wichen mir erschrocken aus und sahen verwundert dem schwarzen Volvo hinterher, der auf der Hauptstraße davon raste.

Ich sah ihm kurz nach, wissend, dass das Auto erstens gestohlen war und wir es zweitens entweder nie wieder oder das nächste Mal verbrannt oder in einem Fluss versenkt sehen würden. Dann ließ ich meinen Kopf wieder auf den Boden sinken und gönnte mir ein paar Sekunden um meinen Blutdruck zu senken. Zumindest solange bin ein Gesicht über mir auftauchte.

Ein Mann hatte sich über mich gebeugt und sah mich besorgt an. „Alles in Ordnung, Miss? Geht es Ihnen gut?"

Erst jetzt merkte ich, dass sich eine kleine Menschentraube um mich gebildet hatte. „Ja", sagte ich und rappelte mich auf, „Alles in Ordnung. Diese Vollidioten haben einfach keinen Sinn für Höflichkeit." Wieder klopfte ich mir den Staub und den Dreck von den Kleidern, die ich wohl sowieso in die Tonne treten konnte, als ich plötzlich einen stechenden Schmerz in der rechten Schulter spürte. Ich hatte sie mir beim Aufprall wohl verletzt, doch ich ließ mir nichts anmerken.

„Sind Sie sich sicher? Sie bluten."

Ich langte an meine rechte Schläfe und spürte die warme Flüssigkeit. Ich hatte einen kleinen Cut genau an der Stelle, wo mein Kopf Bekanntschaft mit der Glasscheibe gemacht hatte. Wahrscheinlich sah es schlimmer aus als es war, vor allem weil ein inzwischen getrockneter Blutstropfen bis auf meine Wange heruntergelaufen war. „Es geht mir gut. Wirklich", versicherte ich ihm, „Aber danke für Ihre Hilfe." Dann machte ich, dass ich schleunigst dort wegkam.

Es blieb mir wohl oder übel nichts anderes übrig als zu Fuß zurück zum Unfallort zu gehen. Die seltsamen Blicke der Passanten ignorierte ich auf dem Rückweg und versuchte das Blut wenigstens mit meinen Haaren ein wenig zu verdecken und zog mir die Kapuze über den Kopf. Meine Schulter spürte ich dafür aber umso mehr. Ich drückte sie mit meiner Hand an den Körper um sie wenigstens ein bisschen zu stabilisieren.

Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde mir bewusst, wie viel es wert war sich frei und ohne ständig auf sich ruhende Blick bewegen zu können. Hier war keiner, der jeden meiner Schritte überwachte, wenn man von dem Chip in meinem Arm einmal absah. Aber das nahm ich in Kauf. Alleine um dem scheußlichen Gefängnis-Essen und dem ganzen kalten, seelenlosen Metall zu entgehen.

Criminal 2 - Das Spiel des TeufelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt