Eine letzte Nacht | 2

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Langsam hatte ich das Gefühl, dass ich in einer Zeitschleife gefangen war. Die Woche verlief genauso wie die vorherigen drei. Wir suchten nach Hinweisen auf die Bombe, gingen Spuren nach, verloren sie wieder und suchten nach neuen. Und wieder kam nichts dabei heraus.

Die einzige Abwechslung waren meine Abende mit Vincent, an denen wir zusammen etwas unternahmen. Mal gingen wir Essen, mal ins Kino, aber immer fiel mir auf, dass er seltsam gehemmt war. Doch jedes Mal wenn ich ihn darauf ansprach, wich er aus oder hatte eine so gute Ausreden, so dass ich bald selbst an meinem Urteilsvermögen zu zweifeln begann. Vielleicht täuschte ich mich ja tatsächlich und es lag an mir. Ich hatte alles andere als viel Erfahrung mit festen Beziehungen, aber ich konnte seinen Gesichtsausdruck im Harlem-Club, als ich von meinem Großvater erzählt hatte, einfach nicht vergessen.
 
Am Sonntag Nachmittag saßen wir vier um einen Schreibtisch und aßen aus den Pappschachteln, die Nolan vom Chinesen mitgebracht hatten. Cohen war der einzige, der mit einer Gabel aß und wir waren gerade dabei uns über seine Unfähigkeit, mit Stäbchen umzugehen, lustig zu machen.

„Nein, mal ehrlich", meinte Vincent gerade, „Hatten Sie keine chinesischen Restaurants in Chicago?"

Cohen winkte ab. „Kommen Sie, wer isst schon mit zwei Stöcken aus Holz? Da bekommt man doch Krämpfe in den Händen." Als Demonstration nahm er sie in die Hand und versuchte sie zu halten. Bei ihm sah es tatsächlich so aus als würde er sich gleich die Finger brechen. Wir lachten.
 
„Okay, ich erlöse Sie mal", sagte ich, stand auf, nahm ihm die Stäbchen ab und ging damit zu meinem Schreibtisch. Kurz darauf kam ich mit einem Blatt Papier und einem Gummiband zurück. Ich faltete das Blatt, legte es zwischen die Hinteren Enden der Essstäbchen und wickelte das Gummi darum. „Bitteschön." Ich gab sie ihm zurück. Er musste jetzt nur noch die vorderen Enden zusammendrücken. „Das wäre die Kindergarten-Variante."

Er hob eine Augenbraue.

Ich grinste und ging zurück zu meinem Platz.
 
„Könntest du mir vielleicht noch etwas Wasser holen?", fragte Nolan und hielt mir seinen leeren Becher hin, „Ich meine, du stehst ja schon..."

Ich nahm den Becher. „Ausnahmsweise." Ich ging durch den Raum zu dem Wasserspender und füllte ihn wieder auf. Als ich fertig war und den Becher gerade wieder in die Hand nahm, blubberte es in dem durchsichtigen Kanister. Ich wusste nicht warum, es war schließlich nur ein handelsüblicher Wasserspender, aber ich blieb mit meinem Blick daran hängen.
 
Wie gebannt sah ich dabei zu wie die Luftblase, die durch das Auffüllen des Bechers entstanden war, langsam nach oben stieg und sich an der Wasseroberfläche auflöste. Auf einmal fühlte ich mich unwohl. Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen und meine Handflächen wurden feucht. Ich schaffte es einfach nicht von dem Anblick des Wassers loszureißen.
 
Erinnerungsfetzen drängten sich mit aller Gewalt in meine Gedanken und schienen mir die Luft abzuschnüren. Da war Wasser, ein unerträgliches Brennen in meiner Lunge und Panik. Panik, die mich auch jetzt wieder erfasste. Ich spürte wie mein Atem sich beschleunigte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich konnte mich nicht rühren. Meine Finger begannen zu kribbeln und langsam taub zu werden. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ich hatte das Gefühl gleich in Ohnmacht zu fallen. Schwarze Flecken schoben sich in mein Blickfeld und wurde immer größer, bis sie drohten alles zu verdecken.
 
Ich hatte den Becher fallen gelassen, aber das hatte ich kaum wahrgenommen. Mein Umfeld war schon längst in weite Ferne gerückt, weshalb ich auch heftig zusammenzuckte, als mich jemand an den Armen packte. Etwas tauchte vor mir auf und ich hörte, wie jemand mit mir sprach, aber ich verstand es nicht. Es war als wäre derjenige Meilen entfernt. Dann wurde ich plötzlich an den Schultern gepackt, an eine breite Brust gedrückt und vor jemanden her geschoben. Ich wusste nicht wohin wir gingen, aber das war mir im Moment vollkommen egal. Ich war nur froh, dass ich von dem Wasser weg kam.
 
Eine Tür schlug hinter uns zu und andere, kühlere Luft kam mir entgegen. Wir waren nicht mehr im stickigen Büroraum. Ich zwang mich tief durchzuatmen und langsam klärte sich mein Blickfeld wieder. Ich kniff die Augen zusammen und als ich sie wieder öffnete, sah ich einen besorgten Vincent vor mir.

„Jordan? Hey."

Ich sah ihn an. Mein Kopf schmerzte und ich merkte, wie ich am ganzen Leib zitterte.

„Ganz ruhig. Atme. Einfach atmen."

Ich folgte seinen Anweisungen, doch der Hauptgrund, warum es mir gelang, mich zu beruhigen, waren seine warmen Hände, die die meinen hielten. „Wo sind wir hier?", fragte ich noch leicht benommen.

„Im Treppenhaus. Hier kommt so gut wie niemand vorbei. Die benutzen alle den Aufzug."

Ich nickte, obwohl ich die Bedeutung seiner Worte nicht ganz verstand. Im Nachhinein war ich ihm aber dankbar, dass er mich da weggebracht hatte. Auch, weil ich nicht wollte, dass mich noch mehr Leute so sahen. Ich nahm meine Hände aus seinen und fuhr mir durch die Haare. Erschöpft lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Wand.

„Geht es wieder?", wollte er wissen und ich nickte. „Was war das gerade?"

„Ich habe keine Ahnung", gab ich zu.
 
„Ist alles in Ordnung?"

Ich hatte mich in der Zwischenzeit wieder gefangen und hob den Kopf um ihn anzusehen. „Ja, sicher. Warum sollte es nicht so sein?"

Er tat so als würde er nachdenken. „Hm, keine Ahnung. Vielleicht weil du gerade eine Panikattacke wegen einem Wasserspender hattest?"

„Mir geht es gut, Vince."

Vorwurfsvoll verschränkte er die Arme vor der Brust. „Ich dachte wir sind damit durch uns anzulügen."

„Ach, sind wir das?", fragte ich plötzlich etwas schroffer als beabsichtigt, „Und was war dann im Harlem-Club? Ich weiß, dass es nicht Barrons Tod war, der dich vor ein paar Tagen so aus der Bahn geworfen hat. Ich weiß nur, dass du dich seitdem von mir distanzierst. Jeden Tag ein Stück mehr. Du verheimlichst mir etwas. Also sag mir, Vincent, sind wir damit durch uns zu belügen?" Ich wusste nicht, wie mir das in den Sinn gekommen war. Ich wollte nur, dass er aufhörte zu fragen und das war mir als Argument wohl als erstes eingefallen. Angriff war die beste Verteidigung.
 
Vincent presste die Lippen aufeinander und als ich merkte, was ich gerade gesagt hatte, schloss ich gequält die Augen. „Tut mir leid."

Doch er schüttelte den Kopf. „Nein, du hast recht. Und wir sollten darüber reden."

Erstaunt hob ich eine Augenbraue. Das war das letzte, mit dem ich gerechnet hatte.

„Aber nicht jetzt. Ich komme heute Abend bei dir vorbei, ja?"

Ich war etwas überrumpelt, weshalb ich einfach nickte.

„Okay. Kommst du dann wieder rein?"

„Geh schon mal vor. Ich komme gleich."

Er zögerte einen Augenblick, dann ging er.
 
Doch kaum hatte er die Tür wieder hinter sich geschlossen, ließ ich mich mit dem Rücken an der Wand nach unten rutschen. Ich war vollkommen fertig. Ich erlaubte mir einen Moment einfach durchzuatmen. Meine Unterlippe bebte und ich blinzelte gegen die Tränen an. Ich konnte mich zwar an nichts mehr erinnern, was vor vier Tagen passier war, aber ich wusste durch den Flashback, dass Dean und Vincent mir etwas verschwiegen. Etwas schlimmes.
 
Nach fünf Minuten hatte ich mich endlich wieder beruhigt. Ich rappelte mich auf und fuhr mir über das Gesicht, in der Hoffnung nicht ganz so ausgezehrt auszusehen wie ich mich fühlte. Dann ging ich zurück zu den Schreibtischen und setzte mich an meinen Platz als wäre nie etwas gewesen.

Mein Essen war inzwischen kalt, aber ich hatte ohnehin keinen Hunger mehr. Ich warf die Pappschachtel in den Mülleimer.

„Geht's dir gut, Jordan?", fragte Dean.

Ich nickte. „Klar. Mir war nur ein wenig schwindelig. Aber es ist alles wieder ok." Ich lächelte ihn an, um ihn von meinen Worten zu überzeugen. Ich wusste nicht, ob es funktionierte. „Aber das nächste Mal holst du dir dein Wasser selbst. Oder ich bringe dir was aus dem Automaten", fügte ich noch hinzu und wandte mich dann einem Blatt Papier zu als wäre es das interessanteste der Welt.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Vincent mich die ganze Zeit über beobachtete. Immerhin hielt Cohen den Mund und auch Dean aß schweigend weiter.

Criminal 2 - Das Spiel des TeufelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt