Aus den Augen einer Kriminellen | 5

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Die meisten Agenten, die nach etwa fünfzehn Minuten eintrafen, kannten mich nicht. Ich stellte mich lediglich als zivile Beraterin vor und da die Männer und Frauen auch nicht wussten, wer ich war, blieben mir ausnahmsweise die verachtenden Blicke erspart. Eine der Frauen stellte mir einige Fragen, die ich ihr so genau wie möglich beantwortete, aber nach etwa zwanzig Minuten entließ sie mich und wunderte sich höchstens darüber, wie nüchtern ich die ganze Zeit über geblieben war. Ich schaffte es, wie so oft, meine Gefühle in irgendeine Ecke meines Verstanden zu verbannen und, wenn ich Glück hatte, gleich ganz zu vergraben. Das gestern schien mich seltsamerweise ein wenig abgestumpft zu haben, aber ich wusste, dass ich Holly Barron in meinen Träumen begegnen würde.

Als die Agentin weg war, setzte ich mich auf eine Treppenstufe und atmete durch. Mein Blick fiel auf den Durchgang zum Wohnzimmer, aber ich verwarf den Gedanken gleich wieder. Ich konnte weder Nolan noch Vincent helfen und mir denken, dass sie gerade einfach nur Zeit brauchten. Stattdessen dachte ich über Barrons letzten Worte nach. Sie hatte mir nicht nur sagen wollen, dass sie wusste, dass ich Kate DeLeón war. Das war keine Anklage gewesen. Sie wollte etwas über den Herrscher sagen. Etwas wichtiges.

Und das ließ mir keine Ruhe, weshalb ich kurzerhand nach oben ging und dort auf jemanden von der Spurensicherung traf. „Entschuldigen Sie bitte, sind Sie in diesem Raum fertig?" Ich deutete auf Barrons Büro.

„Wir haben die Fotos schon gemacht. Was wollen Sie dort drin?"

„Ich... ich bräuchte einen Moment. Sie war eine Freundin."

Er nickte mir mitfühlend zu. „Aber tragen Sie bitte Handschuhe. Sie können sich welche aus dem Koffer da hinten holen." Er ging zurück in das Schlafzimmer.

Ich nahm mir keine Latex-Handschuhe aus dem Koffer. Aus der Innenseite der Handschuhe konnte man Fingerabdrücke entnehmen und es war eine alte Angewohnheit jegliche Spuren zu vermeiden. Stattdessen holte ich ein Paar dünne Lederhandschuhe aus meiner Jackentasche. Ich streifte sie mir über die Finger und über das Blut, das noch daran klebte. Es war inzwischen getrocknet und ich machte mir noch nicht die Mühe es abzuwaschen. Das hatte Zeit.

Ich schloss hinter mir die Tür zu Holly Barrons Büro. Wieder wurde ich überrascht. Hier sah es genauso aus wie auf ihrem Schreibtisch in der FBI-Dienststelle. Anscheinend war sie nur bei ihrer Arbeit so akribisch und ließ die Ordnung in ihrem restlichen Haus ein wenig schleifen. Aber das war menschlich. Es war einfach ihr Ausgleich zu dem Perfektionismus, den sie außerhalb dieser vier Wände an den Tag legte. Ich wünschte nur, dass ich diese Seite von ihr früher kennengelernt hätte und vermutlich war ich nicht die einzige, der das so ging.

Ich setzte mich auf ihren Stuhl und begann vorsichtig die Papiere zu durchwühlen. „Rechnungen, Versicherung, Bankauszüge...", murmelte ich vor mich hin, „Wo hast du deine kleinen Geheimnisse versteckt, Holly?" Ich sah mir noch einige Briefe an, dann seufzte ich und lehnte mich auf dem Stuhl zurück. Gedankenverloren klopfte ich mit den Fingern auf die Tischplatte. Es musste hier etwas geben. Das hatte ich im Gefühl.

Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen und blieb an einem riesigen Bild hängen, auf dem in schwarz weiß die Skyline von New York abgebildet war. Ich hatte in meinem Apartment das gleiche hängen. Es war etwas über zwei Meter breit und beinahe anderthalb Meter hoch. Der Unterschied zu meinem Bild war, dass das hier auf eine Leinwand gedruckt worden war. Und dass es überhaupt nicht hier her zu gehören schien. Das Motiv passte schlichtweg nicht zu der Holly Barron, die ich kannte. Zu keiner ihrer zwei Seiten.

Mit zusammengekniffenen Augen stand ich auf und stellte mich vor das Bild. Etwas stimmte daran nicht. Versuchshalber hob ich es von unten an. Die Leinwand war leicht und ich hatte kein Problem damit sie abzuhängen. Ich lehnte sie gegen den Schreibtisch, stellte mich vor die Wand und hob beide Augenbrauen. „Da war wohl jemand fleißig."

Die ganze Fläche, die vorher von dem Bild verdeckt worden war, war mit Fotos und Notizen vollgeklebt. Ganz oldschool waren sie mit verschiedenfarbigen Schnüren, die um Pinnnadeln gewickelt waren, miteinander verbunden. Rechts stand in Großbuchstaben mein mehrmals eingekringelter Name, daneben war ein Feld für Evan Shaw und wieder daneben pinnte der Name Kate DeLeón. Dazu gehörte ein körniger Ausschnitte eines Überwachungsvideos. Er zeigte mich, wie ich gerade das Gelände des Corrad-Hafens verließ. Erkennen konnte man mich darauf nicht.

Rechts führten so gut wie alle Schnüre zu meinem Namen, doch am auffälligsten war eine dicke rote, die zu der linken Seite führte. Dort wiederum prangerte eine fett geschriebene Frage: »Wer ist der Herrscher?« Doch als ich genauer hinsah, entdeckte ich einen Strich quer über dem Fragezeichen. Fast so als wäre es wäre es für Barron nicht länger eine Frage gewesen.

Plötzlich wurde mir einiges klar. Ich wusste nicht nur das Warum für Barrons Mord, sondern auch das Wer. Holly Barron hatte ihre eigenen Nachforschungen betrieben. Erst über mich und später über den Herrscher. So weit ich das auf den ersten Blick beurteilen konnte, war sie wirklich gründlich gewesen. Aber vor allem war sie erfolgreich gewesen. Ich vermutete, dass sie tatsächlich herausgefunden hatte, wer der Herrscher wirklich war, und deshalb hatte sterben müssen. Vincent hatte erzählt, dass sie schon vor Wochen vermutet hatte, dass sie beobachtet wurde. Während die FBI-Agenten das für Paranoia gehalten hatte, könnte sie damit recht gehabt haben. Holly Barron hatte einen zweiten Schatten gehabt. Und das hatte sie sich nicht nur eingebildet.

Der Herrscher hatte gewusst, was sie tat und als sie ihm zu gefährlich geworden war, hatte er sie aus dem Weg geräumt. Nur, um das hier zu entsorgen, hatte er entweder nicht genug Zeit gehabt, weil wir ihn gestört hatten oder er hatte es nicht gefunden. Ich tippte auf ersteres. Tut mir leid, Holly, aber es gab wirklich bessere Verstecke.

Es klopfte an der Tür. „Alles in Ordnung?", fragte der Mann von der Spurensicherung.

Ich zog lautstark die Nase hoch, damit es sich so anhörte als hätte ich geweint. „Ja. Nur noch zwei Minuten."

„Natürlich."

Ich zog mein iPhone aus der Tasche und machte ein Foto von dem Wandbild. Zwar hatte ich ein fotographisches Gedächtnis, es war zu wenig Zeit um mir alles einzuprägen. Dann hängte ich die Leinwand zurück an die Wand. Vielleicht würde es die Spurensicherung finden, vielleicht auch nicht. Das war mir relativ egal. Lediglich den Zettel mit meinem vollständigen Namen hatte ich zuvor abgehängt, zerknüllt und ihn zusammen mit meinen Handschuhen in meine Tasche gesteckt.

Als ich auf den Flur hinaus trat, wischte ich mir über das Gesicht, als würde ich die restlichen Spuren meiner Tränen beseitigen, bedankte mich und verschwand im Bad, wo ich mir endlich die Hände wusch. Danach ging ich wieder hinunter. Vorsichtig streckte ich meinen Kopf in das Wohnzimmer. Die Jungs saßen mit dem Rücken zu mir, aber ich musste nicht ihre Gesichter sehen um zu wissen, wie es ihnen gerade ging. Ich überlegte kurz ob ich zu ihnen gehen sollte, entschied mich aber dagegen. Ich wollte das ganze nicht noch verkomplizieren, weshalb ich unbemerkt das Haus verließ.

Draußen sah ich zu den Nachbarhäusern. Neugierige Gesichter drückten sich an die Scheibe und einige Menschen waren sogar auf die Straße hinaus getreten. Sie hatten keine Ahnung was für ein Grauen sich keine hundert Meter von ihnen abgespielt hatte und ich hoffte, dass sie es auch nie erfahren würden. Jeder wollte immer alles wissen, aber manchmal war es besser unwissend zu sein.

Schnell stieg ich in mein Auto, damit sie meine verbluteten Klamotten nicht sahen. Ich fuhr mir durch die Haare und seufzte, als mir auf einmal eines klar wurde. Holly Barron war gestorben, weil sie dem Herrscher zu nah gekommen war. Ausnahmsweise war ich einmal nicht an ihrem Tod schuld und das erleichterte mich ungemein. Nur leider war diese dunkle Wolke weitergezogen und wenn ich die Wahl hätte, hätte ich diese Last gerne wieder auf mich genommen wenn sie Vincent dafür erspart geblieben wäre. Er hatte das nicht verdient.

Criminal 2 - Das Spiel des TeufelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt