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Sie ging zurück zu Lieses Zimmer und als Paddy sie sah, stand er auf und ging zu ihr auf den Gang. „Was ist los?" Fee schlug die Hände vors Gesicht. „Ich habe geglaubt, dass es ihr gut geht. Ich habe nicht auf sie aufgepasst." Sie versuchte zu erklären, was der Arzt gesagt hatte, aber sie wusste selber, dass es unverständlich war. „Es tut mir leid. Das kann doch alles gar nicht wahr sein." „Fee, sie werden wieder gesund!" In Fee schrie alles: ‚Und was wenn nicht?' Dieser Gedanke erfüllte sie mit so viel Panik, dass sie glaubte, nicht mehr atmen zu können. „Ich weiß, dass es schwierig ist, aber wir müssen jetzt stark sein!" Paddy strich Fee über die Arme und sah sie eindringlich an. Sie atmete ein paarmal tief ein und aus und versuchte die Panik in den Griff zu bekommen. Schließlich sagte sie müde: „Ich weiß. Hast du etwas von Lotte gehört?" „Ich habe die Schwester oben anrufen lassen. Sie wird noch untersucht und wir können nicht zu ihr. Fee, ich warte jetzt bis wir wissen, was mit Lotte ist und dann fahre ich nachher irgendwann kurz nach Hause. Wir brauchen alle etwas anzuziehen und ich hole Bücher und sowas für die Mädchen." „Der Arzt hat gesagt, dass es ganz wichtig ist, dass Liese liegen bleibt und sich ausruht." „Okay, dann machen wir das. Sie ist ja noch sehr müde und wird bestimmt viel schlafen." Gemeinsam setzten sie sich zu Liese und warteten darauf, etwas von Lotte zu hören. „Herr und Frau Lorenz, bitte kommen Sie doch mit mir." Fee wusste bereits, dass es keine guten Nachrichten waren, die Ihnen Dr. Dimler überbrachte. „Der Hirndruck ist relativ hoch. Wir haben die Medikamente angepasst und hoffen, dass sie anschlagen. Sollte keine Besserung eintreten, müssen wir Lotte in eine Klinik verlegen, die auf solche Verletzungen bei Kindern spezialisiert ist." „Was passiert, wenn der Druck hoch bleibt?" „Ein zu hoher Druck kann zu permanenter Schädigung des Gehirns führen. Die Schwellung ist linkshemisphärisch, deswegen auch die Ausfälle im Sprachzentrum. Wir haben nur einen ziemlich engen Korridor, sonst ..." Fee schüttelte den Kopf, sie wollte es nicht hören. Sie konnte es nicht hören. Paddy legte ihr den Arm um. Er stellte ein paar Fragen, aber Fee bekam nichts mehr davon mit. „Kann ich wieder zu meiner Tochter? Besteht irgendeine Möglichkeit, dass sie mit ihrer Zwillingsschwester zusammengelegt werden kann?" Der Arzt zögerte. „Das ist eigentlich nicht unbedingt üblich, aber...." „Vielleicht können wir irgendeine Privatzimmerlösung finden? Eine Art Familienzimmer? Fee geh du doch schon mal vor, ich komme gleich." Fee wusste, dass Paddy versuchen würde, seinen Promistatus zu nutzen. Und sie hoffte sehr, dass es funktionieren würde. Sie ging zu Lotte und sah sie an. Vollkommen regungslos lag sie im Bett. Fee setzte sich zu ihr und fing wieder an zu beten. Sie hatte das unbedingte Bedürfnis die Gottesmutter Maria und Gott anzuflehen, ihrer Tochter zu helfen. „Fee? Sie werden uns ein Familienzimmer hier im Intensivbereich geben. Aber es dauert ein bisschen, bis das alles hergerichtet ist. Ich weiß, du möchtest gerne bei Lotte sein, aber ich glaube, du solltest Liese jetzt nicht alleine lassen. Du musst aufpassen, dass sie liegen bleibt. Ich fahre nach Hause und komme so schnell wie möglich wieder. Was brauchst du denn?" „Irgendwas zum Anziehen, ganz egal. Liese und Lotte brauchen ihre Lieblingskuscheltiere. Oh nein, die waren im Auto, ich weiß nicht, wo sie jetzt sind." „Ich bringe ihnen andere mit und ihre Puppen und etwas zum Anziehen." „Danke." Paddy legte Fee beide Hände auf die Schultern und küsste sie auf den Hinterkopf. „Ich beeile mich." „Bitte fahr vorsichtig." „Ja, dass mache ich."

Fee blieb noch einen Moment bei Lotte und ging dann zurück zu Liese. „Mama, wie geht es Lotte?" „Sie schläft noch. Aber wir dürfen nachher alle zusammen in ein Zimmer, dann ist keiner von euch alleine." „Das ist gut. Mama, kannst du mir eine Geschichte erzählen?" Fee erzählte eine Geschichte von einem verzauberten Einhorn, dass kranke Kinder gesund machen konnte und sie war froh, als sie sah, dass Liese beim Zuhören eingeschlafen war. Sie blieb auf Lieses Bett sitzen und hielt sie im Arm, auch wenn ihr alles weh tat, aber das war vollkommen egal. Fee hatte sich noch nie in ihrem Leben so hilflos gefühlt. Die Angst, dass Lotte nicht gesund werden könnte drohte sie zu ersticken.

„Fee? Wir können umziehen. Das Zimmer ist fertig. Liese? Wir können jetzt zu Lotte. Ihr dürft in einem Zimmer sein. Lotte schläft aber ganz tief. Sie muss sich ausruhen, ja?" Paddy war mit zwei Reisetaschen zurückgekommen. „Okay. Mama, kommst du mit?" „Ja, wir dürfen alle zusammen in dem Zimmer schlafen." „Das ist gut." Sie schoben Liese nach oben zur Intensivstation. „Ich zeige Ihnen ihr Zimmer." Schwester Sabine hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass Paddy im Krankenhaus war und sie kümmerte sich rührend um Liese und Lotte. „Es tut mir leid, dass ich so ausgeflippt bin," entschuldigte sie sich bei Fee. „Schon okay." „Keine Sorge, von mir erfährt niemand etwas. Erstens unterliegen wir ja sowieso der Schweigepflicht und zweitens würde ich Michael Patrick nie verraten." „Danke!" „Wenn Sie irgendetwas brauchen, dann klingeln Sie einfach, oder Sie kommen zum Schwesternstützpunkt." „Vielen Dank." „Fee, versuch doch dich auszuruhen. Darf ich dir etwas vorlesen Liese?" Fee legte sich ins Bett und hörte Paddy zu, wie er leise aus einem Buch vorlas. Sie drehte ihm den Rücken zu und sah Lotte an, die im Bett neben ihr lag. Ihr Herzschlag machte gleichmäßige Wellen auf dem Monitor und ihr Brustkorb hob und senkte sich.

Fee beobachtete Lotte und sie sah, wie sie aufhörte zu atmen. Sie hörte einfach auf. Fee sprang aus dem Bett und versuchte zu Lotte zu laufen. Sie wollte um Hilfe schreien, aber sie konnte nicht. Sie kam nicht vorwärts und es kam kein Ton aus ihrem Mund. Hinter sich hörte sie Lieses vorwurfsvolle Stimme: „Mama, du hast nicht auf uns aufgepasst. Wir gehen jetzt in den Himmel!" Fee wollte schreien. Sie versuchte verzweifelt sich zu Liese umzudrehen und gleichzeitig zu Lotte zu kommen. Aber sie war wie festgefroren. Es war eiskalt und sie konnte sich nicht bewegen. Mit einem verzweifelten Schluchzen schreckte Fee aus ihrem Alptraum hoch. „Was ist los?" Paddy saß noch an Lieses Bett, das Buch in der Hand und sah sie fragend an. Fee sprang auf, sie ging zu Lotte. Sie atmete noch und der Herzschlag war nach wie vor gleichmäßig. „Liese, geht es dir gut? Soll ich dir mal etwas vorlesen?" „Nein, mein Kopf tut so weh. Und mein Bauch auch. Mama, es tut so weh." „Ich gehe," sagte Paddy. Er verließ den Raum. Fees Herz raste immer noch von dem Schrecken des Alptraums. Sie nahm Lieses Hand und streichelte darüber.

Bei Liese wurde ein erneuter Ultraschall gemacht. „Wir werden morgen früh operieren. Wir werden bei einem endoskopischen Eingriff den Riss übernähen. Zur Überwachung der Vitalwerte werden wir Liese an einen Monitor anschließen. Bei Kindern ist die Gefahr eines zu schnellen Blutverlustes leider deutlich höher als bei uns Erwachsenen." Fee sah den Arzt erschrocken an. „Kann die OP bis morgen warten?" fragte Paddy. „Ja. Solange wir die Vitalwerte engmaschig überwachen und auf die Alarmzeichen achten, ja. Sollte sich der Zustand verschlechtern und eine Blutung auftreten, dann machen wir heute Nacht eine Not-OP." Wie in Trance ging Fee zurück zum Zimmer. Liese hatte etwas gegen die Schmerzen und zum Schlafen bekommen, damit sie sich die Nacht über möglichst wenig bewegte. Paddy legte sich hin und nach kurzer Zeit hörte Fee seinen gleichmäßigen Atem. Sie wusste, dass er sich sein Leben lang antrainiert hatte zu schlafen, wann und wo er die Gelegenheit dazu bekam. Der Alptraum ließ Fee nicht schlafen. Sie blieb bei Lotte sitzen um sicherzugehen, dass sie nicht aufhörte zu atmen und sie sah immer wieder nach Liese. Es war eine lange, graue Nacht die sich schier endlos zog. Mitten in der Nacht hielt Fee es nicht mehr aus. Sie hatte die ganze Zeit überlegt, wie sie Liese und Lotte helfen konnte. Die Vorstellung, dass Lotte in ein anderes Krankenhaus verlegt werden würde, war schrecklich. Sie konnte weder Liese, noch Lotte alleine lassen. Schließlich griff sie zu ihrem Handy und rief Juli an. Sie wusste, dass sie sie weckte, aber sie hielt es nicht mehr aus. Fee setzte sich im Flur auf den Boden und erzählte Juli unter Tränen was passiert war. „Fee, das ist ja schrecklich." Julis Mitgefühl half Fee. Und vor allem half es ihr, dass ihre Freundin sehr schnell auf die rational denkende Ärztin umschaltete und ihr mit ruhiger, bestimmter Stimme sagte, das sie tun sollte. „Fee, du weißt doch, dass Torben Neurochirurg ist, oder? Kannst du bitte den Ärzten sagen, dass er anrufen wird und sie von der Schweigepflicht entbinden, damit sie ihm sagen dürfen was los ist und ihm die MRT Bilder und so weiter zukommen lassen können? Er kann sagen, was sein muss und was nicht, ja?" Fee stimmte zu. Als sie auflegte hatte sie ein schlechtes Gewissen. Zum einen, weil sie ihre beste Freundin mitten in der Nacht geweckt hatte, aber vor allem, weil sie nicht daran gedacht hatte, Torben anzurufen. Sie waren in diesem Provinzkrankenhaus und sie kannte doch einen Arzt, der Experte auf dem Gebiet von Kopfverletzungen war. Was, wenn es nun zu spät war? Wenn Lotte einen Hirnschaden hatte, weil sie nicht daran gedacht hatte, sich an Torben zu wenden? Gott sei Dank hatte Juli daran gedacht und würde sich um alles kümmern. Fee kam keine Sekunde zur Ruhe. Tausend Ängste und Befürchtungen tobten in ihrem Kopf. Sie fühlte sich so unendlich hilflos und hatte das Gefühl für ihre Töchter nicht richtig da sein zu können. Sie hatte das Gefühl, dass das alles ihre Schuld war. Sie hatte den Unfall gehabt. Sie hatte nicht richtig reagiert. Sie hatte auf Liese geachtet. Sie hatte nicht daran gedacht Torben anzurufen. Sie hatte alles falsch gemacht.

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