Mein ehemaliger Sportlehrer, Mr. Cross, wäre begeistert gewesen, wenn er gesehen hätte, wie schnell ich zurück zu der Wohnung gesprintet war.
Ich glaubte, Alaina gleich mit einem schwarz-maskiertem Kerl ringen zu sehen. Oder einen toten Körper auf dem Boden vorzufinden. Oder ein völlig leerstehendes Apartment. Oder etwas ähnlich Schreckliches.
Als ich in ihrer Türe zum Stehen kam, war ich beinahe erleichtert. Keine kämpfende Alaina, kein toter Körper und das Wohnzimmer schien noch vollmöbliert zu sein.
Aber ich sagte: beinahe erleichtert.
„Das glaubt mir niemand", murmelte ich kopfschüttelnd, während mein Blick über ein und dasselbe Foto glitt, das bestimmt hundertfach, wenn nicht häufiger, die Wände und Möbel in Alainas Wohnzimmer tapezierte. Ihr Lächeln starrte mich von allen Seiten und Winkeln an.
Es waren nicht einfach nur Fotos.
„Das sind Vermisstenanzeigen", murmelte ich erschrocken während Alaina neben mir vielleicht so etwas wie einen kleinen Nervenzusammenbruch erlitt, während sie nach Luft schnappte und begann, die Blätter, die mit jeweils einem Klebestreifen versehen waren, von den Wänden zu reißen. Eine ziemlich sinnlose Unternehmung, denn es waren einfach zu viele.
Ich drehte mich zu der Türe, auf dessen Innenseite ebenfalls fünf dieser Zettel hingen und begutachtete das Schloss. Es war in Takt. Keiner hatte es aufgebrochen. Vielleicht mit einem Dietrich?
„Alaina, hat außer dir noch jemand den Schlüssel zu dieser Wohnung?", fragte ich und sie drehte sich zu mir. Zwei Tränenpfade erstreckten sich über ihre Wangen und in beiden Händen hielt sie bestimmt ein dutzend dieser Vermisstenanzeigen.
„Nur meine Eltern", schniefte sie und warf die Zetteln auf den Boden, bevor sie verzweifelt zu weinen begann. Ich konnte nicht gut mit weinenden Menschen umgehen, also zupfte ich eines der Vermisstenanzeigen von der Türe.
Ich erkannte das Foto, es war auf ihrem Instagramprofil hochgestellt, aber das war schon einige Zeit her. Vielleicht war sie auf dem Bild sechzehn oder siebzehn und trug eine Zahnspange. Am oberen Rand des Blattes stand in großen, schwarzen Druckbuchstaben: MISSING.
Darunter stand: Bald ist es soweit. Die Stadt tapeziert mit deinem wunderschönen Gesicht und wir werden zusammen sein.
Wäre mir so etwas passiert, hätte ich auch geweint. Vielleicht noch hysterischer, als Alaina es gerade tat, denn den Umständen entsprechend verhielt sie sich eigentlich recht ruhig.
Der Stalker hatte sie heute Nacht also gar nicht im Kino sehen wollen. Er hatte sie nur aus der Wohnung haben wollen, um ihr einmal mehr Angst zu machen.
Wenigstens wusste sie nun, dass ich unmöglich der Stalker sein konnte. Ich war schließlich den ganzen Abend bei ihr gewesen und das hier hätte einige Zeit in Anspruch genommen.
Außer sie dachte, ich hätte einen Komplizen, aber dann war ihr ohnehin nicht mehr zu helfen.
„Was soll ich denn jetzt tun?", fragte sie mit brechender Stimme und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Ich spreche vielleicht das Offensichtliche aus, aber ich würde eine Nummer mit drei Zahlen wählen."
„Ich kann nicht zur Polizei! Die halten mich wieder nur für verrückt, oder halten das hier für einen Scherz!" Sie breitete die Arme aus und deutete um sich. Auf der Couch klebten die Zettel, auf dem Boden lagen sie verstreut, sie hingen am Kühlschrank, am Regal, bedeckten den Fernseher und die Fenster. „Ich kann dort nicht schon wieder hin, in der Hoffnung, dass mir jemand hilft, nur um gesagt zu bekommen, dass meine Sorgen lächerlich sind."
Ich warf einen Blick durch das Wohnzimmer. Überall grinste mich eine fröhliche Alaina an. Nur die die vor mir stand war völlig verzweifelt.
„Ja, ich bin sicher, die Cops werden das lächerlich finden. Alaina, das hier ist kein Spaß mehr. Es hat auch nichts mit dem Einbruch zu tun, den die Bullen nicht mit dem Stalker in Verbindung bringen wollten. Das hier war eindeutig der Stalker. Komm schon, wir sollten wirklich die Polizei rufen."
Sie fuhr sich durch die Haare. „Ich werde hier drinnen sterben. Ich- ich... Er... da auf dem Zettel steht, dass es bald soweit ist, was ist bald soweit?" Die Tränen sammelten sich wieder in ihren Augen.
„Okay, also, wenn du nicht mit einem guten Grund ankommst, warum ich die Cops nicht rufen sollte, dann mache ich das jetzt." Ich zog mein Handy als Warnung hervor und wartete darauf, dass sie es mir einmal mehr ausreden wollte, aber sie sagte nichts mehr, sondern versuchte eine Stelle in der Wohnung zu finden, an der diese Zettel nicht hingen. Sie rief mir aufgebraucht zu, dass die Vermisstenanzeigen den Spiegel im Badezimmer bedeckten, dass sie an der Duschwand klebten, unter ihrer Bettdecke und zwischen ihrer Kleidung lagen und ich fand sie sogar im Kühlschrank und in diversen Schubladen.
Also rief ich endlich die Bullen.
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Der Stalker meiner Vormieterin
Teen FictionFür Simon hat eben erst ein neues Leben angefangen. Endlich frei von dem Dauerkrieg Zuhause und frisch von seiner Freundin getrennt, will er sich, nicht zu weit weg, ein eigenes Leben aufbauen, auch, wenn er noch nicht so recht weiß, wie das aussehe...