Die folgenden Tage waren zur Abwechslung recht ruhig. Ich erhielt keine unheimliche Post von dem Stalker, keine Anrufe von der Polizei und Alaina war vor zwei Tagen wieder zurück in ihre Wohnung gezogen, was bedeutete, dass ich endlich wieder in meinem Bett schlafen konnte. Die Polizei hatte die Spurensicherung abgeschlossen, aber außer Alainas Fingerabdrücken keine gefunden und auf etlichen Vermisstenanzeigen waren überhaupt keine zu finden gewesen.
Der Stalker war nicht dumm, das machte ihn vermutlich noch viel gefährlicher, als wenn er ein ganz normaler Triebtäter in Teilzeit gewesen wäre.
Sophie hatte mich gestern angerufen und gemeint, dass Mom ihr eben gesagt hatte, dass sie und Dad sich scheiden lassen würden. Ein Teil von mir war erleichtert. Der andere Teil war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Nach all den Jahren voller Streit hatte es Dads Betrug geschafft, dass Mom ging.
„Er will das Sorgerecht gar nicht haben", hatte Sophie gesagt. „Er hat gesagt, wenn Mom die Scheidung will, dann muss sie sich alleine um uns kümmern. Er seilt sich einfach ab."
Ich glaubte nicht, dass er das Sorgerecht nicht wollte. Ich glaubte, dass er Mom unter Druck setzen wollte, damit sie die Scheidung noch einmal überdenken würde. Das machte es schlimmer.
An diesem Abend klopfte ich an Julianas Türe, obwohl ich nicht so recht wusste, was ich bei ihr wollte. Aber ich hatte Loaf mitgenommen, damit A.T. auf meiner Seite sein würde.
Als sie die Türe öffnete, sah sie nicht überrascht aus und ihr Hund flitzte an ihren Beinen vorbei und hinaus auf den Flur, um Loaf zu begrüßen.
„Du kommst genau richtig", lächelte sie. Sie sah nicht so aus, als hatte sie vorgehabt, irgendwo hinzugehen, in ihrer Jogginghose und dem schlichten, weißen T-Shirt.
„Wieso? Hat Kamara gerade seine Unterhose wieder angezogen?"
Sie spitzte die Lippen und sah mich amüsiert an. „Er ist nicht hier. Ich meinte, dass ich mir ein Bier aufmachen wollte. Willst du auch eines?"
„Weiß nicht. Trinkt man, wenn man erfährt, dass die Eltern sich trennen?"
Sie lachte. „Oh ja. Du brauchst ein Bier." Juliana trat zur Seite und ließ mich in ihre Wohnung. Kamara war wirklich nicht da und ich war erleichtert, dass ihr Apartment noch genauso aussah, wie das letzte Mal, als ich hier gewesen war.
„Obwohl", meinte sie, als sie in der Küche verschwand und A.T. und Loaf einander durchs Wohnzimmer jagten. „Ich war noch etwas jung, um zu trinken, als meine Eltern sich getrennt haben. Und bist du nicht ein bisschen zu alt dafür?"
„Zu alt zum Trinken? Geht das überhaupt?"
Sie kam mit zwei geöffneten Bierflaschen aus der Küche. „Ich meinte: Bist du nicht ein bisschen zu alt, um dich wegen die Scheidung deiner Eltern fertig zu machen?"
Wir setzten uns auf die Couch, stießen kurz an und ich trank einen Schluck. „Vielleicht. Ich bin nur sauer darüber, wie mein Vater sich verhält."
„Wie verhält er sich denn?"
„So, wie sich ein Vater nicht verhalten sollte." Ich hatte ihr nur knapp erzählen wollen, was Sophie mir berichtet hatte, aber Juliana fragte so oft und zielgenau nach, dass ich am Ende der Geschichte schon bei meinem zweiten Bier war.
Sie hatte ein Bein angezogen und legte die Hände in den Schoß. „Hilft es dir denn, wenn ich sage, dass alles okay wird?"
„Nein, das klingt zu abgedroschen", erwiderte ich und sie lächelte.
„Aber es ist wahr. Wir Menschen haben die Fähigkeit, uns anzupassen. Wenn etwas Schreckliches passiert, finden wir einen Weg, damit klarzukommen. Manche kämpfen, andere sitzen es einfach aus." Es tat gut, sie das sagen zu hören, auch, wenn ich mir nicht sicher war, ob diese Regel auf einen Zehnjährigen und eine Siebenjährige anwendbar war.
DU LIEST GERADE
Der Stalker meiner Vormieterin
Novela JuvenilFür Simon hat eben erst ein neues Leben angefangen. Endlich frei von dem Dauerkrieg Zuhause und frisch von seiner Freundin getrennt, will er sich, nicht zu weit weg, ein eigenes Leben aufbauen, auch, wenn er noch nicht so recht weiß, wie das aussehe...