Ich war nicht überrascht, als ich einen Blick in den Briefkasten hineinwarf und zwischen den ganzen Reklamen einen Brief ohne Anschrift fand. Wenn ich ganz ehrlich war, freute ich mich beinahe jeden Tag auf diese Briefe. Ich war neugierig, was in ihnen stand, obwohl mir bewusst war, dass es mich alles andere als amüsieren sollte. Vermutlich hätte es mich eher anekeln sollen.
Ich marschierte die vier Stockwerke nach oben und war froh, weder Mrs. Graves zu begegnen, noch der hübschen Single Nachbarin. Vor zwei Tagen hatte ich unten am Klingelschild nach ihrer Türnummer gesucht und den Namen herausgefunden.
Juliana Deacon.
Ich sperrte meine Wohnungstüre auf, zog mir Jacke und Schuhe aus und warf mich auf die Couch. Ungeduldig riss ich den Umschlag auf und zog an dem Brief, der sich darin befand. Als ich das Papier entfaltete, fiel mir ein Foto auf die Brust und ich setzte mich auf. Es war das Bild von einem violetten Stoffhasen. Auf der Rückseite des Fotos stand mit schwarzem Edding geschrieben: Weil ich dich auf ewig lieben werde.
Ich wusste nicht, was dieser Hase zu bedeuten hatte, aber aus irgendeinem Grund fand ich dieses Bild zehn Mal verstörender, als alle Briefe zusammen.
Ein Stalker-Brief war eine Sache, ein beigelegtes Foto von einem lila Stoffhasen, eine andere. Gut, es mag sich nicht so schlimm anhören, aber in diesem Moment hätte ich auch lieber wo anders gewohnt. Ich legte alles auf den Couchtisch, stand auf, verschloss die Türe und zog in jedem Raum der Wohnung die staubigen Vorhänge vor. Danach fühlte ich mich ein kleinwenig besser und bereit, den Brief zu lesen, doch schon beim ersten Absatz wurde mir schlecht
Heute habe ich es gewagt, dir näher zu kommen. Ich bin zu deiner Türe gelaufen. Sie ist schwarz. Warum ist sie nun schwarz, sie war davor immer rot? So rot, wie deine Wangen, die von deinem unschuldigen Blut durchströmt werden; So rot, wie das Feuer der Leidenschaft in deinen Augen, wenn du mich ansiehst. Ich weiß, dass du mich liebst.
Mir blieb das Herz stehen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so bedroht gefühlt, wie in diesem Augenblick. Wer auch immer diese kranken Briefe schrieb, war direkt vor meiner Türe gewesen. Vor meiner schwarzen Türe, die ich selbst mit meiner Schwester angestrichen hatte.
Vor meiner Türe.
Deine Blicke haben mir immer verraten, was du fühlst, auch wenn deine Lippen, dein Mund, versucht haben, es zu leugnen. Zu jung, zu schön, zu unberührt. Die verbotene Frucht.
Den Rest möchte ich nicht wiederholen, weil er absurde, graphische Sexfantasien beschrieb, die sogar mich verstörten.
Als ich fertig war, legte ich den Brief zur Seite, griff nach meinem Handy in der Hosentasche und rief Rey an, damit er seinen Arsch hier her bewegte und ich meinen Ekel auf jemanden Abladen konnte. Jemand musste sich jetzt meine dummen Sprüche anhören und glauben, dass mir das alles keine Angst machte, damit ich es auch selbst glauben konnte. Und obwohl es schon spät war, kam Rey vorbei, pflanzte sich mit einer Flasche Bier auf mein Sofa und las den Brief ebenfalls.
„Igitt!", spuckte er an irgendeiner Stelle aus. „Das ist..."
„Altmodisches Sexting?"
„Absolut krank." Während Rey eine Stelle vorlas, trank ich die Hälfte meines Biers und wünschte, es wäre etwas Stärkeres. „Und wenn ich fertig bin, werde ich dich ans Bett fesseln und das Zimmer anzünden, damit du spürst, wie sehr du mir wehgetan hast." Es war die vorletzte Zeile, und vermutlich die, die mir am meisten Angst gemacht hatte.
„Parker, du musst damit zur Polizei." Rey schüttelte den Kopf und betrachtete den Brief noch einen Augenblick, bevor er ihn wieder zusammenfaltete und mir zurückgab. „Stell dir vor, der Psychopath schleicht sich in deine Wohnung und ersticht dich, während du schläfst."
Ich blinzelte ihn an. Eigentlich hatte ich einen Haufen Sarkasmus auf Rey herabregnen lassen wollen, um all das ein wenig abzumildern, aber dank seiner dramatischen Vorstellungen, fiel mir nichts ein.
„Mir wird schon nichts passieren", sagte ich stattdessen, in der Hoffnung, dass Rey mir irgendwie zustimmen würde.
„Woher willst du das wissen? Der Kerl ist geisteskrank."
„Na und? Ich auch."
Rey betrachtete mich herausfordernd, bevor er mir den Brief wieder aus der Hand riss und wahllos eine Zeile daraus zum Besten gab. „Hast du deiner Ex-Freundin jemals Textnachrichten geschrieben, wie: Wenn ich anfange, meinen harten Schwanz in dich zu stoßen und meine Hände um deinen weichen Hals zu schließen, wirst du wissen, wie sehr ich dich liebe."
Ich zuckte mit den Schultern. „Manche steh'n drauf."
„Alter, hör auf mit den Späßen, das ist nicht mehr lustig!", schimpfte Rey und wandte sich wütend weiter dem Brief zu. „Du wirst es nicht schaffen, dich gegen mich zu wehren, dich gegen meine Liebe zu wehren, wenn ich in dir bin und-"
„Okay, okay!" Ich sprang von der Couch auf und fuchtelte abwehrend mit den Händen. „Ich hab die Scheiße selber gelesen, bitte lass mich die Worte nicht auch noch von dir hören, das verfolgt mich sonst bis in meine Träume."
„Geh zur Polizei", wiederholte Rey. „Und zieh um! Zieh verdammt nochmal auf einen anderen Kontinent!"
Ich legte den Kopf schräg. „Jetzt machst du dich lächerlich. Ich bin doch eben erst eingezogen."
„Ja, und du kannst von Glück reden, wenn du lebend wieder hier raus kommst. Stell dir vor, was der Psychopath mit dir macht, wenn er herausfindet, dass du seine Briefe gelesen hast. Die Briefe, die eigentlich für jemand anderen waren. Der Kerl bringt dich doch um! Te va a matar!"
„Wird er nicht", entgegnete ich schwach.
„Das hast du davon, dass du so überstürzt aus deinem Elternhaus ausgezogen bist."
„Hätte ich etwa dort bleiben sollen, bis ich fünfzig bin?"
„Nein, aber ein bisschen länger, und die Wohnung hätte einem anderen Schwein gehört. Dann wäre es nicht dein Problem gewesen!"
„Es ist nicht mein Problem", knurrte ich.
„Du kriegst jede Woche Briefe von Jack The Ripper und sagst, dass es nicht dein Problem ist? Was denn sonst?"
„Es ist das Problem der Frau", erwiderte ich und setzte einen theatralischen Dramablick auf. „Gott steh ihr bei, wenn der Irre sie findet."
„Du-" Rey wollte mich vermutlich beschimpfen, aber er sagte nichts. Stattdessen stand er kopfschüttelnd auf. „Du bist hoffnungslos. Viel Spaß mit deinem Stalker-Psycho-Scheiß. Ich verzieh mich. Adiós!" Er zog sich die Jacke über.
„Wir sehen uns, wenn mein Auto wieder mal eine Panne hat", sagte ich noch, bevor er aus meiner Wohnung verschwand.
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Der Stalker meiner Vormieterin
Fiksi RemajaFür Simon hat eben erst ein neues Leben angefangen. Endlich frei von dem Dauerkrieg Zuhause und frisch von seiner Freundin getrennt, will er sich, nicht zu weit weg, ein eigenes Leben aufbauen, auch, wenn er noch nicht so recht weiß, wie das aussehe...