„Mrs Graves!", rief ich, als ich sie aus dem Haus kommen sah, während ich mein Auto in eine Parklücke lenken wollte, mich aber stattdessen aus dem Fenster beugte. „Mrs. Graves!"
Sie sah sich um, entdeckte mich und blieb neben einem der Bäume stehen, die in gleichmäßigen Abständen am Rand des Bordsteins gepflanzt worden waren.
„Simon!" Sie lächelte und jetzt, da ich sicher war, dass sie warten würde, konnte ich meinen Wagen in Ruhe parken und sicher abstellen, bevor ich ausstieg und gehetzt auf sie zustürzte.
„Ich wollte Sie etwas fragen!" Vielleicht fiel ich mit der Türe ins Haus, aber wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann wollte ich es auch gleich erledigt haben.
„Was denn Simon?"
„Kannten Sie die Person, die vor mir in dem Apartment gewohnt hat?"
„Natürlich." Mrs. Graves nickte und ließ die Schlüssel, die sie immer noch in der Hand hielt, nun in die knallbunte Tasche gleiten. Obwohl es heute recht warm war, trug sie ihren giftgrünen Pelzmantel.
„Wie hieß sie? Wissen Sie, warum sie ausgezogen ist? Oder wo sie wohnt?"
Sie sah mich an als wäre ich ein Stalker. Aber wenn ich schon so ungeschickt nach einer Person fragte, dann wäre ich vermutlich der schlechteste Stalker der Welt gewesen. Und damit noch schlechter, als der eigentliche Stalker.
Schnell schüttelte ich den Kopf. „Ich... bekomme nur hin und wieder Post, die nicht für mich ist."
„Steht denn kein Name darauf?"
Ich schüttelte ehrlicherweise den Kopf, nur um kurz darauf wieder zu lügen. „Es sind Liebesbriefe. Harmlos, aber sie sind eindeutig nicht für mich und sollten doch von der richtigen Person gelesen werden, oder nicht?"
Sie lächelte. „Natürlich, aber ich kann dir leider nicht weiter helfen. Ich weiß nur ihren Namen. Alaina Miller."
Alaina Miller.
„Sie hat nicht lange hier gewohnt. Vielleicht acht Monate." Ich war überrascht, dass es überhaupt jemand so lange in dieser Bude aushielt.
„Und wissen Sie, warum sie ausgezogen ist?"
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, sie war ein recht zurückhaltendes Mädchen."
„Mädchen?", hakte ich nach.
„Nun ja, sie war erst neunzehn Jahre alt. Ich weiß nicht viel über sie, aber ich glaube nicht, dass sie die Schule beendet hat. Sie ist aber in New York aufgewachsen, das hat sie mir einmal erzählt. Ein paar Mal habe ich versucht, mit ihr zu reden, aber sie war... eine harte Nuss. Ich habe es nicht geschafft, sie zu knacken." Ihr Gesicht verdunkelte sich. „Ich habe auch nie Besucher bei ihr gesehen. Ich denke sie war ziemlich alleine. Aber sie war eine nette, junge Frau. Ein sehr hübsches Mädchen. Die Liebesbriefe überraschen mich nicht."
„Und Sie wissen nicht, wohin sie gezogen ist oder warum sie weggezogen ist?"
Mrs. Graves kniff die Augen zusammen. „Nein, da bin ich überfragt, tut mir leid. Ich wusste gar nicht, dass sie vorhatte, auszuziehen, bis ich den Lärm und die Kartons auf dem Flur gesehen habe."
Ich nickte. „Danke, vielleicht... vielleicht finde ich sie ja trotzdem irgendwie und kann ihr die Briefe vorbei bringen."
Mrs. Graves lächelte und legte ihre Hand auf meinen Oberarm. „Lieb von dir. Falls du sie wirklich finden solltest, richte ihr liebe Grüße von mir aus."
„Mach ich", lächelte ich.
„Ich muss jetzt einkaufen gehen. Brauchst du etwas?"
„Nein, vielen Dank. Mein Kühlschrank ist gefüllt."
„Okay. Wir sehen uns!"
Ich hob die Hand zum Abschied und machte mich auf den Weg zum Haustor, während sie davonstöckelte.
Natürlich war mein Kühlschrank nicht gefüllt. Er war sogar ziemlich leer, aber ich wollte heute einfach nicht mehr gestört werden.
In meinem Apartment angekommen riegelte ich wie immer die Türe ab, warf meine Jacke über die Lehne der Couch und holte meinen Laptop aus dem Zimmer. Ich setzte mich auf den Küchentisch und begann das Internet nach einer Alaina Miller zu durchforsten.
Nebenbei schickte ich eine lange Bestellung zu einem asiatischen Restaurant.
Ich fand ungefähr fünfzehn Alaina Miller's, die hier in New York lebten oder gelebt hatten, aber mehr als die Hälfte davon fiel direkt weg, weil sie zu alt waren. Ich suchte nach einer Alaina, die mittlerweile höchstens neunzehn sein konnte.
Davon gab es vier.
Dann kam mein Essen an. Ich hatte vergessen, wie teuer Lieferdienste waren und meine Geldbörse war nun wieder komplett leer. Dafür konnte ich bei meinen Recherchen Sushi und gebratene Nudeln essen.
Nach einer guten Stunde, in der ich mich satt gegessen und tief im Internet gegraben hatte (und ich meine wirklich tief -alle Social Media Profile, die ich finden konnte, Vereine, in denen sie tätig gewesen waren, sogar Schülerlisten hatte ich gefunden, sodass ich mich wirklich wie ein Stalker fühlte), waren noch zwei Alainas übrig, die mit Sicherheit hier in New York aufgewachsen waren und ziemlich perfekt in das Profil passten.
Ich war überrascht, wie leicht es war, jemanden zu finden, den man gar nicht kennt, wenn man Name, Alter und Geburtsort hatte. Wir lebten in verrückten Zeiten, mit verrückten Menschen.
Beide Alainas waren brünett. Beide waren unscheinbar und wären auf der Straße wohl nicht aufgefallen -zumindest mir nicht. Sie waren nicht hässlich, aber in der Menge stachen sie auch nicht hervor.
Eine von ihnen hatte in der Schule Fußball gespielt. Eine andere war bei den Cheerleadern gewesen, was mich automatisch dazu verleitete, einen genaueren Blick auf sie zu werfen und zu hoffen, dass ich nach ihr suchte. Ich war während meiner High-School Zeit im Footballteam gewesen, und obwohl ich Football nie als etwas angesehen hatte, das es wert gewesen wäre anzuhimmeln, hatten die Mädchen das getan. Sie waren alle schlank und groß gewesen und hatten sich nach jedem Spiel an das Team rangemacht.
Gestört hatte es mich nicht.
Eine Alaina hatte einen kleinen Bruder (vielleicht acht). Weihnachtsfotos vor einem großen Baum und in denselben Pyjamas.
Die andere Alaina hatte zwei Schwestern.
Alles in allem schienen beide ein recht normales Leben zu haben.
Nur eine Sache machte mich stutzig. Eine der beiden Alainas (die Fußball-Alaina mit dem kleinen Bruder) hatte seit guten anderthalb Jahren nichts mehr gepostet. Nicht auf Instagram, nicht auf Facebook, nicht auf Twitter -nirgends. Ich entdeckte ihren Namen an keiner Universität, keine Bachelorarbeiten oder sonst etwas waren veröffentlicht worden. Es gab keinerlei Hinweise, dass diese Frau überhaupt noch existierte und sich nicht umgebracht hatte oder überfahren worden war. Aber andererseits hätte so etwas bestimmt in der Zeitung gestanden. Die Frage war nur, ob man sie namentlich genannt hätte.
Ich war so sehr in meinem Element, dass ich durch die ganzen Nachforschungen schon nach wenigen Stunden das Gefühl hatte, die Fußball-Alaina persönlich zu kennen. Ich vergrub mich in ihrer Vergangenheit. Auf einer Website, die anscheinend ihr Englischprofessor führte, fand ich einen Text von ihr. Sie hatte ihn geschrieben als sie sechzehn gewesen war.
Das violette Kaninchen.
Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. „Wenn das mal kein Zufall ist...", murmelte ich, während ich die Zeilen überflog. Es war ein Text über einen Stoffhasen, der von einem kleinen Mädchen verloren wurde und im Regen und Matsch vor sich hinsiechte, von Hunden zerfetzt und von Füchsen in den Bau gezerrt wurde.
Ich verstand den Sinn des Textes nicht, aber ich hatte noch nie viel mit Poesie anfangen können.
Wenn du mich kenntest, kenntest du dich.
Dieser Satz kam wiederholt in dem Text vor.
Als ich einen Blick auf die Uhr warf, wurde mir bewusst, dass ich über vier Stunden im Wohnzimmer gesessen hatte.
„Stalking ist anstrengend", seufzte ich, rieb mir über die Augen und klappte meinen Laptop entschieden zu.
DU LIEST GERADE
Der Stalker meiner Vormieterin
Novela JuvenilFür Simon hat eben erst ein neues Leben angefangen. Endlich frei von dem Dauerkrieg Zuhause und frisch von seiner Freundin getrennt, will er sich, nicht zu weit weg, ein eigenes Leben aufbauen, auch, wenn er noch nicht so recht weiß, wie das aussehe...