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Um diese Uhrzeit tummelten sich fast nur Volkschüler, die bereits Schulschluss hatten und Anzugträger im Starbucks herum. Aber ich entdeckte auch ein paar junge Erwachsene, die mit ihren Laptops oder Büchern und Notizen an Einzeltischen saßen und ihren Kaffee tranken oder an einem Muffin knabberten. Studenten. Langweiler.

Ich hatte immer gefunden, dass die Collegeerfahrung überbewertet war. Ehrlich, ein paar der dümmsten Menschen, die ich bisher kennenlernen durfte, waren aufs College gegangen. Und Universitäten waren für die Leute, die zu faul zum Arbeiten waren. Und Collegestudenten hatten, wie Unistudenten in meinen Augen zu reiche Eltern oder zu viel Spaß daran, sich zu verschulden.

Alaina hatte ihre Hände um den Becher mit gekühltem Grüntee gelegte und schwieg, während ich meinen Eistee schon beinahe ausgetrunken hatte. Wer liebte es nicht, wenn die Frauen, mit denen man am selben Tisch saß, nicht sprachen?

„Also...", begann ich, weil ich begriffen hatte, dass sie sonst nicht sprechen würde. Ihre indigoblauen Augen trafen meinen Blick. „Wahrscheinlich verdrehst du gleich die Augen und fragst, was das für eine Frage ist, aber... du hast keine Ahnung, wer das alles tut, oder?"

Sie rollte mit den Augen. „Was ist das denn für eine Frage? Natürlich nicht. Sonst hätte ich längst eine einstweilige Verfügung. Oder... einen anderen Namen."

„Das ist ein guter Punkt: Warum hast du noch keinen anderen Namen?"

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hab gedacht, ein Umzug reicht aus. Ich war vorsichtig, habe niemandem meine Adresse verraten, den Möbelwagen unter einem anderen Namen bestellt und bin nur mit Hoodie und Sonnenbrille nach draußen gegangen. Hab meinen Job gewechselt, extra an einem Ort, der für mich ganz und gar untypisch ist..." Sie senkte den Blick wieder. „Eine Zeit lang hat es ja auch ganz gut geklappt. Ich habe absolut nichts von ihm gehört. Bis... naja, bis die Briefe heute Morgen vor meiner Türe gelandet sind."

Also hatte der Stalker herausgefunden, wo sie nun wohnte. Vielleicht sogar wegen mir. Weil ich andauernd in Alaina hineingerannt war und der Stalker mir gefolgt war, weil er gewusst hatte, dass ich gewusst hatte, wo sie wohnte. Ich war niemand, der sich schnell schuldig fühlte, aber ein ungutes Gefühl schlich sich in meine Brust. Und es war Schuld, weil ich ihr damals bis nach Hause gefolgt war.

„Tut mir leid", sagte ich, weil es vermutlich das Mindeste war, was ich tun konnte. „Aber du musst doch irgendeinen Verdacht haben. Ein Arbeitskollege? Ein Ex-Freund? Ein Kerl, dem du mal eine Abfuhr erteilt hast?"

Sie schüttelte den Kopf und ihre Finger nestelten nervös an den hellblauen Ärmeln unter ihrer Jacke herum. „Da ist niemand. Mit meinem Ex bin ich im Guten auseinander gegangen, in meinem Job sind nach wie vor nur Frauen und... naja, ich musste noch nie jemandem einen Korb geben."

Sie trank einen Schluck von ihrem Tee.

„Nur aus Neugierde, wo hast du vorhin gearbeitet, wenn dort auch nur Frauen waren? Und kann ich in dieses Arbeitsfeld wechseln?"

Ich hätte schwören können, dass ein Lächeln an ihren Mundwinkeln zupfte. „Ich habe eine Ausbildung zur Krankenpflegerin gemacht. In meiner Abteilung waren nur Frauen."

Von der Krankenschwester zur Kellnerin im Strip-Club. Das war mal ein Karriereabstieg und Alaina tat mir leid, weil sie offensichtlich die Notwenigkeit dazu gesehen hatte.

„Natürlich hatte ich ab und zu Kontakt zu männlichen Kollegen", fuhr sie fort, schüttelte aber sofort den Kopf. „Aber über eine freundliche, nebensächliche Konversation ging das nie hinaus."

Ich kannte mich zu wenig mit Stalking aus, aber ich war mir sicher, dass einigen Stalkern ein einfacher Blick genügte, um sich auf eine Person zu fixieren.

Ich trank einen Schluck Eistee und ließ meinen Blick nachdenklich durchs Café schweifen. Mein Blick blieb an den meerjungfraublauen Haaren hängen. Beinahe hätte ich mich verschluckt.

Juliana saß an einem Tisch neben dem Fenster, einen Kaffee vor sich und lachte. Denn sie war nicht alleine.

Ihr gegenüber saß ein junger Mann. Vielleicht fünfundzwanzig. Kurze dunkle Haare. Dunkelblaues Hemd. Ein Schwarzer.

Das hatte ja nach meinem Kommentar von gestern Nacht kommen müssen, oder?

„Alles okay?", fragte Alaina unruhig und ich riss den Blick von Juliana.

„Ja. Ja, alles okay." Ich versuchte mich wieder auf den Stalker zu konzentrieren, aber es war schwer zu ignorieren, dass Juliana ihre Mittagspause diesmal mit jemand anderem als mir verbrachte. „Ich hab nur nachgedacht. Hat der Stalker außer dem Müllsack mit den Briefen sonst noch etwas vor deine Türe gelegt?"

Sie schüttelte den Kopf. „Nein."

Ich war verwirrt. Der Stalker hatte ihr die Briefe gebracht. Er hatte, was er wollte. Und trotzdem hatte ich gestern die Nachricht bekommen, dass ich es bereuen würde. Ich wusste immer noch nicht, was genau ich bereuen sollte.

„Hey, ich... Ich gehe lieber." Ihr Blick huschte durch das Café. „Öffentliche Plätze machen mich ziemlich nervös. Aber du kannst dich ja bei mir melden, falls du wieder Mal was von ihm hörst... Was ich natürlich nicht hoffe."

„Soll ich dann auch einen Brief mit Berichterstattung vor deine Türe werfen?", fragte ich und sie lachte auf. Sie lächelte nicht oft, aber es vertrieb alles Düstere aus ihrem Gesicht und ließ sie viel lebendiger wirken. Sie streckte die Hand aus.

„Dann gib mir dein Handy. Ich speichere meine Nummer ein, wenn das okay ist." Ich war überrascht, dass sie mir einfach so ihre Nummer anvertraute, aber andererseits hatte sie nicht mehr viel zu verlieren, oder? Ein psychisch, labiler Typ kannte ihre Adresse, verfolgte und terrorisierte sie seit zwei Jahren. Ab diesem Punkt konnte es vermutlich kaum noch schlimmer werden.

Während sie ihre Nummer eintippte, glitt mein Blick automatisch wieder zu dem Tisch am Fenster. Juliana und der Unbekannte unterhielten sich immer noch. Sie mussten einander gut kennen, denn Julianas Körperhaltung war völlig entspannt und als er über den Tisch griff und ihre Hände in seine nahm, lächelte sie, sagte etwas und er lachte.

In meinem Magen formte sich ein Knoten und meine Zähne taten weh, weil ich sie so fest zusammenbiss.

Ein Teil von mir wünschte sich, dass sie herübersehen und mich mit Alaina sehen würde.

War das Eifersucht? Jetzt wusste ich, wie es sich anfühlte, auf der anderen Seite zu stehen. Jetzt wusste ich, wie sich all die Kerle gefühlt hatten, wenn sie mich mit Liv oder Juliana gesehen hatten.

Nicht sehr reizvoll, ich sollte die Schadenfreude sein lassen...

„Hier." Abermals musste ich meinen Blick von Juliana lösen, als Alaina mir mein Telefon zurückgab. „Ich... geh dann mal. Danke für die Einladung."

„Kein Ding. Danke für den Stalker", gab ich grinsend zurück. „Ich wollte schon immer einen haben."

Sie rang sich ein Lächeln ab, schob den Stuhl zurück und setzte sich die Kapuze ihrer Jacke auf. „Man sieht sich." Dann eilte sie aus dem Café, ohne jemandem ins Gesicht zu sehen. Sobald sie weg war, glitt mein Blick wieder zu Juliana.

Ich kannte sie nicht lange genug, um diese Wut in meinem Bauch als gerechtfertigt anzusehen. Aber sie war da. Und ich hatte nicht vor, aufzustehen und zu verschwinden, bevor ich wusste, dass die beiden wieder getrennte Wege gehen würden. Lange konnte es nicht dauern, denn es war dreiviertelzwei und Juliana nahm ihre Arbeitszeiten sicher ernster, als ich es tat.

Ich lag richtig, denn Juliana warf einen Blick auf ihr Handy, sagte etwas und der Typ zog einen Schmollmund, lächelte aber sofort wieder. Beide standen auf, sie hängte sich die Tasche über die Schulter und sie steuerten auf den Ausgang zu. Er hielt ihr die Türe auf und ich erwartete, dass sie gleich seine Hand nehmen würde, wie sie es bei mir getan hatte. Aber sie tat es nicht und ein Hauch Erleichterung überschwemmte mich.

Durch die Fensterfront konnte ich die beiden trotzdem noch so lange lachen sehen, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden waren.

Der Stalker meiner VormieterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt