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Eigentlich begann ich an diesem Dienstag erst um zehn zu arbeiten und wäre um neun mit Loaf Gassi gegangen. Vielleicht hätte ich sie auch zur Arbeit mitgenommen. Da Julianas Dienstrad allerdings etwas anders lief als meines, musste ich wohl oder übel um halb sieben aufstehen, damit ich um sieben Uhr unten am Eingang bei den Postfächern sein konnte.

„Du bist kein Morgenmensch, kann das sein?", lächelte Juliana, als ich gähnend die Treppen nach unten geschlurft kam. Sie stand in ihren blauen, engen Joggingkosen, T-Shirt und Weste vor mir, hielt einen Kaffeebecher mit aufgedruckten Schmetterlingen in der Hand und schien nur so vor Energie zu strotzen.

Ich hingegen war beim Verlassen meiner Wohnung gegen die Türe gelaufen.

„Wie kommst du darauf? Ich liebe den Morgen. Wenn ich ihn um drei Uhr nachmittags beginnen kann."

A.T. und Loaf zogen uns ungeduldig aus dem Haus und obwohl ich erwartet hatte, dass eine peinliche, unangenehme Stille zwischen Juliana und mir aufkommen würde, war das genaue Gegenteil der Fall.

„Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe", meinte sie und klang ehrlich schuldbewusst. Sie kniff die Augen zusammen und schirmte sie mit einer Hand vor der tiefliegenden Sonne ab, als sie zu mir sah. „Ich hatte viel in der Arbeit um die Ohren und... und noch anderes Zeug."

„Anderes Zeug?", hakte ich nach.

„Ist kompliziert. Aber ich verspreche dir, dass die Funkstille absolut nichts mit dir zu tun hat. Und es tut mir leid, wie der Abend verlaufen ist. Ich fand es eigentlich sehr schön. Wirklich."

Sie lächelte mich vorsichtig an, als wollte sie einschätzen, wie ich ihre Worte auffassen würde. Ich wollte ihr kein falsches Bild liefern, also lächelte ich zurück. „Ich auch."

„Huch, Gott sei Dank!", erleichtert atmete sie aus. „Sonst wäre das jetzt sehr unangenehm geworden."

Sie strich sich eine blaue Haarsträhne hinters Ohr. Langsam machte sich ein Ansatz bemerkbar und ich erkannte die dunkelbraunen Härchen.

Ob ihr Besuch bei der Therapeutin wohl etwas mit ihrem plötzlichen Stimmungswandel zu tun hatte? Fast den gesamten Weg zur Hundewiese schaffte ich es, meine Neugierde unter Kontrolle zu halten. Wir sprachen darüber, dass ihre Chefin Druck machte, weil einige ihrer Kollegen krank waren und ausfielen, dass sie einen kleinen Streit mit ihrer Mom gehabt hatte, dass A.T. eine seltsame Phase hatte, in der er jede Nacht um Punkt drei Uhr an ihrer Türe herumkratzte und winselte und dass sie einen Brief von der Hausverwaltung bezüglich der Wartung ihrer Gastherme im Badezimmer bekommen hatte.

„Totale Frechheit", schimpfte sie, weil sie für eine erneute Wartung knappe dreihundert Dollar zahlen müsste. „Ich hab meine Therme im März warten lassen!"

Ich zuckte mit den Augenbrauen und konnte mir einen kleinen Kommentar nicht verkneifen. „Dann wartet sie wohl immer noch."

Sie lachte und ihr Ärger schien wie eine Seifenblase zu zerplatzen. Als wir an der Hundewiese ankamen und die Köter von der Leine ließen, hielt ich es nicht mehr aus und meinte: „Ich will dir nicht zu nahe treten, oder das Bild eines verrückten Verfolgers abgeben, aber... ich habe dich gestern zufällig gesehen, als du in die Arztpraxis von einer gewissen Dr. Cynthia Brown gegangen bist. Ich war gerade auf dem Heimweg von der Arbeit."

Ich wartete ihre Reaktion ab, aber sie lächelte nur milde und nickte. Es schien ihr nicht unangenehm zu sein und sie schien nicht zu glauben, dass ich ihr irgendwo aufgelauert hatte, darüber war ich erleichtert. Zum Glück wusste sie nicht, dass ich mit dem Auto unterwegs gewesen war und ohne auszusteigen und nachzusehen unmöglich den Namen der Psychiaterin hätte wissen können.

„Erst dachte ich, du wärst meinetwegen dort", schob ich hinterher und sie lachte wieder.

„Du dachtest, ich war deinetwegen in Therapie?" Sie legte den Kopf schräg und grinste mich fassungslos an. „Simon, langsam musst du dir einen Schubkarren für dein Ego kaufen, findest du nicht?"

Ich verdrehte schmunzelnd die Augen. „Jedenfalls hab ich mich gefragt, ob das auch etwas mit deiner plötzlichen Stille mir gegenüber zu tun gehabt haben könnte. Die Sache mit Michael. Jedenfalls nehme ich an, dass du wegen seinem Tod dort warst."

Sie nickte sofort. „Ja, das war ich. Und ja, es hat damit zu tun, dass ich mich so komisch benommen hab. Tut mir leid." Loaf und A.T. spielten fangen und ich war beeindruckt, wie schnell Loaf unterwegs sein konnte, wenn sie wollte.

Juliana atmete tief ein und legte eine Hand in den Nacken. „Weißt du, Michaels Tod war kompliziert. Und es ist noch nicht einmal ein ganzes Jahr her. Zehn Monate, glaube ich. Ich schleppe einfach ziemlich viel Schuld wegen dieser Sache mit mir herum."

„Schuld?", fragte ich verwirrt. „Ich dachte es war ein Autounfall. Das war doch wohl kaum deine Schuld, oder?"

„Nein, das nicht, aber... es geht da um etwas anderes." Sie seufzte und lächelte mich mild an. „Tut mir leid, es ist gerade nicht der richtige Zeitpunkt, aber vielleicht erzähle ich dir irgendwann davon, okay?"

Ich fragte mich, wie jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sein konnte. Ich war hier, sie war hier, die Köter spielten und um uns herum war niemand, der uns hätte belauschen können. Beinahe hätte ich diesen Gedanken ausgesprochen, aber dann fiel mir auf, dass sie gemeint hatte, dass sie mir irgendwann davon erzählen würde. Sie hatte also nicht vor, den Kontakt noch einmal so drastisch zu reduzieren und das brachte mich unwillkürlich zum Grinsen.

„Wann musst du zur Arbeit?", fragte sie und ich bemühte mich wieder um einen ernsten Blick.

„Erst um zehn."

„Oh." Sie lächelte neckend und in ihren Augen blitzte etwas auf, das ich nicht ganz einordnen konnte. „Dann bist du also extra für mich so früh aus den Federn gekrochen?"

Normalerweise hätte ich einen sarkastischen, schlagfertigen Spruch parat gehabt, aber aus irgendeinem Grund war mein Gehirn bei dieser Frage und Julianas schelmischen Blick völlig blank.

Also sah ich sie an, zuckte mit den Schultern und erwiderte mit einem ernst gemeinten: „Ja. Ich schätze schon." 

Der Stalker meiner VormieterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt