Es dauerte nicht lange, bis unser Essen kam. Und verdammt, ich muss zugeben, dass Cola nicht so eklig schmeckte, wie ich es in Erinnerung hatte. Irgendwie... weniger süß, aber mehr Kohlensäure als Pepsi. Aber ich ließ mir nichts anmerken.
„Wie alt bist du eigentlich?", fragte sie an irgendeinem Punkt unseres unverfänglichen Gesprächs.
„Rate." Ich drehte die Gabel mit dem Pizzastück ein paar Mal um sich selbst, um den Käse aufzuwickeln.
Sie lachte. „Vierzehn."
„Ha ha. Wie witzig."
„Ich weiß nicht. Dreiundzwanzig?"
„Fast. Zweiundzwanzig. Und du?"
„Vor kurzem dreiundzwanzig geworden."
Oh oh. Sie war älter. Aus irgendeinem Grund störte mich das. Ich wollte nicht, dass sie älter war. Ich wollte der ältere sein. Aber jetzt war es zu spät, um zu flunkern.
„Stört dich das?", grinste sie verschlagen. „Dass du jünger bist?"
„Sollte es das?", fragte ich neutral.
„Ganz und gar nicht."
„Du bist von Oregon hier her gezogen, hast du gesagt. Hast du schon einen Job?"
„Um genau zu sein, habe ich mich nicht nach einer Wohnung hier umgesehen, bevor ich den Job bekommen habe." Sie spießte einige Pennenudeln auf und schob sie sich in den Mund. Ich fragte mich, ob sie Vegetarierin oder Veganerin war. Die Sauce bestand nur aus Avocadocreme, Tomaten, Knoblauch und vermutlich noch anderem Gemüse.
„Und wo arbeitest du?"
„Ich bin Sachbearbeiterin in einer kleinen Versicherungsfirma. Du weißt schon. Kopieren, telefonieren, Kostenvoranschläge, E-Mails verfassen. Die ganze, langweilige Palette." Sie lächelte. „Aber irgendwie mag ich es. Dieser einfache Bürojob."
Das konnte ich nicht nachvollziehen. Ich hatte mir nie etwas Schlimmeres vorstellen können, als von neun bis fünf hinter einem Bildschirm zu sitzen, Akten zu kopieren, Telefonate mit Kunden zu führen, und so weiter.
Gut, doch, es ging noch alptraumhafter. In einer Tierhandlung mit Mal als Chef zu arbeiten.
„Wird das nicht mit der Zeit... eintönig?", fragte ich und trank einen Schluck Cola. Sie hatte meine Pepsi bereits ausgetrunken.
„Ich mag Routine", entgegnete sie. „Ich mag es, zu wissen, was jeden Tag auf mich zukommt. Das hilft mir dabei, hier oben gesund zu bleiben." Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. „Ich könnte niemals einen Job ausüben, bei dem ich permanent auf alles gefasst sein muss und mich dauernd an neue Situationen anpassen muss. Ich könnte zum Beispiel niemals Flugbegleiterin werden. Du weißt fast nie, wo du landest. Es könnte warm oder kalt sein. Am Meer oder in der Stadt. Und du weißt nie, was für Leute du an Bord hast, oder mit welchen Kollegen du arbeitest." Sie schüttelte den Kopf. „Ich fühle mich wohl in der kleinen Blase, in der ich alle Leute in meinem Umfeld kenne und genau weiß, was mich jeden Tag in meinem Job erwartet."
Ich war ein bisschen überrascht. Obwohl mein Naturell genau dem entsprach, was sie gerade aufgelistet hatte, konnte ich gut nachvollziehen, warum sie genau das nicht wollte. Mir hatte noch nie jemand so plausibel seine Sicht der Dinge erklären können.
Ich war verwirrt.
„Woher kommt das?", fragte ich. „Dass du alles... unter Kontrolle haben willst."
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich schätze..." Sie warf mir einen unbehaglichen Blick zu. „Seit Michael gestorben ist. Hast du schon einmal jemanden verloren, der dir nahe stand?"
„Nein."
„Dann verstehst du es bestimmt nicht."
Nein, vermutlich würde ich es nicht, aber ich hatte auch verstanden, warum sie einen Bürojob vorzog. „Du kannst ja versuchen, es mir zu erklären."
Sie ließ ihre Gabel in den leeren Teller gleiten, beugte sich vor und betrachtete mich studierend. Als würde mein Aussehen ihr verraten, welche Worte sie zu wählen hatte, damit ich die Botschaft verstand.
„Wenn jemand stirbt, den du liebst... Wenn du nie wieder mit dieser Person sprechen kannst... Wenn du sie nie, nie wieder sehen und nie wieder von ihr hören wirst, weil sie tot ist..." Sie brach den Blickkontakt ab und sah zu meinem Colaglas. „Das zieht dir den Boden unter den Füßen weg. Es ist, als würdest du im luftleeren Raum vor dich hinschweben. Du weißt nicht, was du tun sollst. Dein ganzer Körper ist schwer wie Blei und jede Bewegung schmerzt, als würde dir jemand sekündlich ein glühendes Stahlrohr in die Brust rammen. Es sind physische Schmerzen, die du erleidest. Und egal was du tust, du kannst diese Person nicht zurückholen. Du wirst nie eine Chance haben, Dinge mit ihr zu erleben, die du dir vorgenommen hast, zu erleben. Und nichts, rein gar nichts, lindert diesen Schmerz. Deine Freunde und deine Familie werden versuchen, dich abzulenken, aber es kommt der Punkt, an dem du nicht abgelenkt werden willst. An dem du einfach nur trauerst. An dem du den Schmerz zulässt und Gott und die Welt hasst. Augenblicke, in denen dich einfach alles überkommt."
Jetzt hob sie den Blick wieder und setzte sich ganz aufrecht hin.
„In dieser Zeit brauchst du ein Seil, an dem du dich festhalten kannst. Eine Schritt für Schritt Anleitung. Aufstehen, Frühstücken -du musst etwas essen, du musst auf dich Acht geben, auch, wenn du nicht möchtest. Du musst dir die Zähne putzen und duschen gehen. Du ziehst dir etwas anderes als Jogginghosen und Gammelshirt an, damit du zumindest nicht tot aussiehst, wenn du dich schon selbst so fühlst. Dann -je nach Terminplan- gehst du zu dem Mittagessen mit deiner Mutter, nimmst den Arzttermin wahr, erledigst die Wocheneinkäufe oder fährst zur Arbeit. Dann kommst du nach Hause. Du musst wieder essen. Hast du genügend getrunken? Sind Rechnungen zu bezahlen? Jetzt kannst du dich hinsetzen und wieder weinen. Aber nur eine kurze Weile. Dann nimmst du dir ein Buch zur Hand und liest etwas, selbst, wenn du dich zwingen musst. Dann darfst du dich mit einem Film oder einer Serie ablenken, Dinge, die dich ignorieren lassen, dass du ganz alleine in der Wohnung bist. Irgendwann schläfst du vor dem Fernseher ein, um die leere, kalte, andere Bettseite nicht spüren zu müssen. Du hast den Sportsender eingeschalten, und erlaubst dir für eine Sekunde vorzustellen, dass alles gut ist. Bevor du einschläfst, gehst du den nächsten Tag durch und versicherst dir, dass du es schaffst. Dass dieser Tag vorbeigegangen ist und auch der nächste Tag enden wird. Dass alles irgendwann aufhört. Auch der Schmerz." Ihr Blick war so eindringlich, dass ich sogar vergaß, das letzte Stück Pizza mit der Gabel aufgespießt zu haben und es nun in der Luft hing. „Denn das Leben da draußen geht weiter. Und andere scheren sich in Wirklichkeit einen Dreck um deine Probleme. Es interessiert sie vielleicht ein paar Wochen, aber dann haben sie es vergessen, oder ihr Empathiekessel ist ausgeschöpft. Du musst anfangen, deinen Scheiß selbst auf die Reihe zu kriegen, egal, wie zerstört du bist. Egal, wie tot du dich im Inneren fühlst. Egal, wie sehr du dir wünschst, gar nichts mehr fühlen zu müssen."
Ich war sprachlos.
Vielleicht war es die Tatsache, dass sie die ganze Zeit über du gesagt hatte und nicht ich oder man. Vielleicht aber auch ihr ernster, kühler Blick. Jedenfalls fühlte ich mich plötzlich so, als hätte ich jemanden verloren, den ich nie gehabt hatte.
Ich hatte Liv verloren, in gewisser Weise. Aber sie war nicht tot. Wenn ich wollte, hätte ich sie anrufen können. Sie hätte vermutlich auch abgehoben. Wir hätten geredet. Vielleicht wäre ich vorbeigekommen, wenn sie noch in der Nähe wohnte. Vielleicht hätten wir bei einem Glas Wein über alte Zeiten geredet. Vielleicht hätten wir Sex gehabt. Und danach wäre sie ausgerastet und hätte mich aus der Wohnung geworfen, weil wir doch eigentlich getrennt waren und sie keine Lust hatte, wieder mit einem Kerl zusammen zu kommen, der ein Kindskopf war und keine Vorstellung von seiner Zukunft hatte.
Aber zurück zu Juliana und dem lang vergessenen Pizzastück auf der Gabel. Ich hatte sie die ganze Zeit über angestarrt, als ich von Sex mit Liv fantasiert hatte. Sie hatte den Blick nicht abgewandt und plötzlich stand der freundliche Kellner neben uns.
„Darf ich abräumen?"
Ich legte die Gabel mit dem aufgespießten Pizzastück zurück auf den Teller und zwang mir ein Lächeln auf.
„Natürlich. Und ich denke, es wird Zeit für das Dessert."
„Und für mich noch eine Pepsi." Sie schmunzelte mich milde an. „Bitte."
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Der Stalker meiner Vormieterin
Teen FictionFür Simon hat eben erst ein neues Leben angefangen. Endlich frei von dem Dauerkrieg Zuhause und frisch von seiner Freundin getrennt, will er sich, nicht zu weit weg, ein eigenes Leben aufbauen, auch, wenn er noch nicht so recht weiß, wie das aussehe...