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Gegen Mittag des nächsten Tages, als ich gerade dabei war, die Hundeleckerlies in ihren Verpackungen an die Metallstangen zu hängen (wobei ich zwei Päckchen für Loaf und A.T. gemopst hatte), klingelte das Glöckchen über der Türe und mein Blick schnellte automatisch zum Eingang.

Die Frau will mich fertig machen, dachte ich ungläubig, als ich Alaina erkannte. Sie sah sich hektisch um und als sie mich erblickte rauschte sie sauer auf mich zu.

„Findest du das witzig?", fauchte sie und ich blinzelte sie an.

„Zum todlachen", sagte ich trocken. „Aber was genau?"

Ihre Jacke hing ihr unordentlich über die Schulter und ihre braunen Haare waren lockig und zerzaust, nicht so spiegelglatt, wie ich es von ich kannte.

Liv hatte ihre Haare auch immer geglättet. Ich hatte es gehasst. Erstens, weil sie deshalb nach jeder Dusche immer eine gute Stunde im Badezimmer gestanden hatte und zweitens, weil ich ihre Locken gemocht hatte.

Sie stieß ungläubig den Atem aus. „Ich hab dir gesagt, dass du die Briefe wegwerfen sollst!"

„Das habe ich doch! Und zwar am anderen Ende der Stadt. Dafür habe ich sogar eine nette kleine Nachricht von deinem Stalker bekommen, in der stand, dass ich es bereuen würde. Herzlichen Dank, dafür!"

Sie schwieg und starrte mich an. „Sie lagen heute Morgen vor meiner Türe..."

Ich ließ die Schultern sinken und stieß den Atem aus. „Das ist doch wohl ein Scherz, oder?"

Sie schüttelte matt den Kopf und trat wieder einen Schritt von mir. „Tut mir leid, ich dachte... das wäre ein kranker Witz, ich wollte nicht..."

„Schon klar." Ich winkte ab. „Das schlägt einem eben aufs Gemüt. Wir sollten vermutlich zur Polizei gehen."

Sie starrte mich an. „Hey, gute Idee. Warum ist mir das nicht schon vor zwei Jahren eingefallen! Wäre ich doch nur früher auf die Idee gekommen, die Cops zu rufen. Revolutionär!"

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Du machst dich über mich lustig."

„Denkst du allen Ernstes, dass ich noch nicht bei der Polizei war?" Sie machte eine Pause, aber es war offensichtlich eine rhetorische Frage gewesen. „Sie können mir nicht helfen. Am Anfang haben sie gesagt, dass sie bei bloßen Briefen nicht viel tun können und kein echtes Gewaltpotential dahinter erkennen können. Keine Gefahr für mich!" Sie lachte bitter auf. „Sie haben mir eine Broschüre über Stalking gegeben. Für mein besseres Verständnis. Und ganz nebenbei haben sie mir durch die Blume gesagt, dass es vermutlich meine eigene Schuld ist und ich mich bei dem armen Jungen entschuldigen sollte, dem ich Hoffnungen gemacht habe. Dann haben sie mich noch in einen Selbsthilfekurs für Opfer von Stalking geschickt. Und als ich eines Abends nach Hause gekommen bin und meine Wohnungstüre aufgebrochen und alles völlig verwüstet war, hat die Polizei gesagt, dass sie keinerlei Zusammenhang zu den Briefen sehen! Weißt du, wie viele hundert Fälle von Stalking bei der Polizei in New York jährlich auf dem Tisch landen? Weißt du wie viele davon unter den Teppich gekehrt werden? Sie kümmern sich nur um die wirklich gefährlichen. Und um die, bei denen sie einen Anhaltspunkt haben. Ich hasse New York. Es ist so groß und beschissen und anonym!"

Erschlagen von den vielen Worten, die aus ihrem Mund gesprudelt kamen, wusste ich erst nicht, was ich darauf sagen sollte. Anscheinend war sie doch nicht ganz so still, wie ich vermutet hatte.

Sie stieß wieder den Atem aus und ließ den Kopf sinken, als sie bemerkte, was auch ich eben festgestellt hatte. „Tut mir leid."

Ich überlegte, was Rey in meiner Situation nun getan hätte.

Sei ein nützliches, hilfsbereites Mitglied der Gesellschaft, hätte er mir geraten.

Aber ich wollte nicht nützlich sein. Weder nützlich, noch hilfsbereit, denn ich war schon viel zu weit in diese Sache hineingerutscht. Ich versank immer tiefer im Treibsand und alle Äste und Felsbrocken, an denen ich mich noch hätte festhalten können, gaben nach und lösten sich aus ihrem Untergrund.

Ich wollte nichts damit zu tun haben.

Und es wäre mir nicht schwer gefallen, mich wieder meiner Arbeit zuzuwenden, zu ignorieren, dass Alaina neben mir stand und so zu tun, als hätten die letzten Minuten nicht stattgefunden. Nach dem ganzen Stalking hätte ihr das Ignorieren vielleicht sogar ganz gut getan, aber irgendetwas in mir trieb mich dazu, die letzten Packungen der Hundeleckerlies zurück in den Karton zu legen. Ich warf einen Blick auf die Uhr, die über den Aquarien hing.

Es war eins. Zeit für meine neuerworbene Mittagspause!

„Willst du mit mir einen Kaffee trinken gehen?"

Sie verzog das Gesicht. „Ich mag keinen Kaffee."

„Du bist mir sympathisch", nickte ich. „Ich mag auch keinen Kaffee. Du wirst schon was auf der Getränkekarte von Starbucks finden."

Sie sah mich unsicher an. Mit einem praktisch Fremden in ein Café zu gehen, der ihre Stalkerbriefe erhalten hatte, stand vermutlich nicht auf ihrer Bucket-List.

Aber schließlich nickte sie. „Okay."

Der Stalker meiner VormieterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt