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Nie hätte ich gedacht, dass mich die Abwesenheit eines Stalkerbriefes härter treffen würde als seine Anwesenheit. Vermutlich lief ich auch deshalb am selben Abend noch einmal nach unten, in der Hoffnung, dass der Stalker vielleicht verschlafen hatte.

Aber nein.

Kein Brief.

„Sei doch froh", meinte Rey, nachdem ich mich bei Mal am Montag krank gemeldet hatte und in die Werkstatt zu der einzigen Person gefahren war, bei der ich (aus welchem Grund auch immer) noch Sympathien wecken konnte.

„Wieso soll ich froh darüber sein?", fragte ich aufgebracht. „Weißt du, was das bedeutet?"

„Dass der Stalker endlich gemerkt hat, dass du in der Wohnung wohnst", sagte er und wischte sich die schwarzen Hände an einem Tuch ab.

„Ganz genau! Und weißt du, was das bedeutet? Es bedeutet, dass er nach der Frau suchen wird!"

„Und das interessiert dich, weil...?", fragte Rey gespielt desinteressiert.

„Es kümmert mich, weil-" Wütend biss ich die Zähne zusammen. „Weil ich einen aufgeschlitzten Stoffhasen vor meine Türe gestellt bekommen habe!"

Ich vermisste Liv.

Nicht sie per se, aber das Leben mit ihr. Es war so schön unkompliziert gewesen, auch, wenn sie es geliebt hatte, sich dem Klischee einer typischen Frau zu fügen.

Sie mochte goldene Armbänder und zarte Halsketten. Sie liebte es, sich hübsch zu machen und Mädchenabende mit ihren Freundinnen zu veranstalten. Und sie war eine teure Freundin gewesen, das könnt ihr mir glauben. Eine Bar, einen Club und Klamottengeschäfte hatte ich immer mit voller Geldbörse betreten und ohne einen Cent wieder verlassen.

Sie hatte viel gelacht und war genau der Engel, den alle in ihr sehen wollten.

Damit hatte sie den Missbrauch in ihrer Kindheit kaschiert.

„Dir macht ein Stoffhäschen Angst?"

„Nicht der Hase", erwiderte ich. „Die Tatsache, dass er aufgeschlitzt war."

Rey warf sich das Tuch, mit dem er sich die Hände abwischte über die Schulter und seufzte. „Ich weiß nicht, was du von mir willst, Mann. Ich hab dir gesagt, geh mit den Briefen zur Polizei. Du wolltest nicht. Jetzt hat es endlich aufgehört und du bist wieder nicht zufrieden. Vielleicht hat unser Unbekannter ja auch einfach nur eine Grippe abbekommen."

Ich nickte. „Ich hoffe, er wurde vom Bus erwischt."

Rey ging hinüber zu dem kleinen Kühlschrank, nahm zwei Bierdosen heraus und warf mir eine zu.

„Hey, ich hab dir von Anfang an gesagt, dass du die Frau suchen sollst."

„Steht die Wette noch? Ich könnte Kohle gebrauchen."

Rey verdrehte die Augen. „Muss man dich wirklich bezahlen, damit du Gutes tust?"

„Gutes?", hakte ich ungläubig nach und öffnete die Dose. „Oh, ja, ich bin sicher, du würdest dich auch mit Fußkuss bedanken, wenn dir ein Fremder einen Stapel unheimlicher Drohbriefe und ein zerstörtes Kinderspielzeug vorbeibringt und sagt: Schöne Grüße, von deinem Stalker."

Rey rieb sich die Nasenwurzel und kniff die Augen zusammen. „Ganz so trocken würde ich es vielleicht nicht machen. Frag Nachbarn. Irgendwer wird doch wohl wissen, wer sie war."

„Ich soll Detektiv spielen?"

„Nein", sagte Rey betont langsam und sah mir genervt in die Augen. „Du sollst dich wie ein nützliches Mitglied der Gesellschaft verhaltenen und einmal Gutes tun."

Missmutig trank ich einen Schluck. „Allmählich fängst du an, zu nerven mit deiner heile-die-Welt-Scheiße."

Ich war mir nicht sicher, ob sein Blick genervt oder amüsiert war, als er die Dose in die Luft reckte. „Cheers, Kumpel!"

Der Stalker meiner VormieterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt