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„Und?", fragte meine Mom am Mittwoch, als ich nach der Arbeit vorbeischaute. Sophie war bei David und Dad war mit Cora und Cal in den Park gegangen. Und ich war hier, weil ich es nicht aushielt, in meiner Wohnung zu sitzen und an den Stalker oder Alaina zu denken. Ich hatte die Briefe erneut weggeworfen, allerdings hatte ich sie diesmal in einen Müllcontainer am anderen Ende der Stadt geschmissen. Wenn er von dort aus wieder zurückkommen würde, dann würde ich in den Vatikan auswandern müssen.

„Darf ich dieses Jahr einen Flug nach Italien für dich mitbuchen?"

Ich hätte wissen müssen, dass dieses Thema früher oder später noch einmal auftauchen würde, immerhin war bald Mai.

„Mom", seufzte ich, wurde aber sofort wieder von ihr unterbrochen.

„Nein, ich weiß, was du sagen willst. Aber du und Liv seid jetzt getrennt, deshalb dachte ich, dass du dieses Jahr vielleicht endlich wieder mitfliegst."

„Ich bin zweiundzwanzig. Das ist ein bisschen zu alt, um noch mit meinen Eltern in den Urlaub zu fliegen."

„Und immer noch wasche und bügle ich deine Bettwäsche", zwinkerte sie.

Unschuldig hob ich die Schultern. „Du hast es mir eben nie beigebracht."

„Weil du vor Hausarbeiten immer schneller davongelaufen bist, als du vor einem Messermörder wegrennen würdest. Wann kannst du dir Urlaub nehmen?"

„Wann fliegt ihr?"

„Wir wollten für drei Wochen nach Caorle. Aber ich wollte mich ganz nach dir richten. Deine Geschwister haben drei Monate frei. Aber Sophie kommt nicht mit."

„Wieso nicht?"

„Ihre Noten haben sich verbessert." Mom verzog das Gesicht und klang beinahe eingeschnappt. „Ich hab ihr gesagt, dass sie mit ihren Freunden und David in den Ferien verreisen darf, wenn sich ihr Notenschnitt wieder bessert."

Ich lachte. „Damit hast du wohl nicht gerechnet."

Sie seufzte. „Nein. Das habe ich tatsächlich nicht. Sie war nie ein Mathegenie, aber sie hat sich reingekniet. Also würde ich mich freuen, wenn wenigstens du mitkommst."

„Ich kann Malcom fragen", meinte ich, obwohl ich mir noch nicht sicher war, ob ich das wirklich tun würde, aber Mom strahlte von einem Ohr bis zum anderen und drückte mich an sich.

„Ich würde mich freuen und dein Dad und deine Geschwister auch. Ruf mich dann an. Wir wollten dieses Jahr ein Ferienapartment nehmen, anstatt eines Hotels. Es gibt so wunderschöne kleine Anwesen direkt am Strand zu einem tollen Preis!"

Ich ließ sie noch eine Weile schwärmen und mir Fotos von der kleinen Stadt am Strand zeigen und kam nicht umher, wieder an Liv zu denken. Daran, dass ich seit unserem ersten großen Streit im Sommer nicht mehr mit meiner Familie zusammen verreist war. Das war nun gute fünf Jahre her und es fehlte mir beinahe.

Als ich meiner Mom davon erzählt hatte, dass Liv wegen ihres Geburtstages wollte, dass ich hier in New York bei ihr blieb, hatte meine Mom Liv angeboten, mit uns nach Ägypten mitzukommen. Dass wir ein paar Tage alle zusammen sein und Liv und ich die letzten Tage des Urlaubes nur zu zweit verbringen könnten.

Aber das hatte Liv abgeschlagen.

Sie hatte gemeint, soviel Geld hätte sie nicht gehabt. Sie war nicht reich, also hatte sie nicht direkt gelogen. Aber ihre Eltern waren reich. Steinreich. Ihre Eltern waren sogar so reich, dass ihr Vater mich einmal auf den Balkon ihres riesigen Anwesens bugsiert und gemeint hatte, dass ich von ihm und seiner Frau alles haben könne, solange ich nur seine Tochter glücklich machen würde. Er hatte mir dabei auf die Schulter geklopft und ich war mir bis heute nicht sicher, ob das eine Bestechung gewesen war. Ob er mich mit Geld für seine Tochter hatte kaufen wollte, obwohl er und seine Frau mich eindeutig nicht gemocht hatten.

Liv hatte nicht des Geldes wegen auf den Urlaub mit meiner Familie verzichten wollen. Um ehrlich zu sein, wusste ich immer noch nicht, was ihre wahren Beweggründe gewesen waren. Vielleicht hatte sie meine Familie nicht gemocht. Vielleicht hatte sie testen wollen, ob sie mir wichtig genug war, damit ich auf die Sommerurlaube mit meiner Familie verzichtete und hier bei ihr blieb.

Vielleicht hatte sie die Kontrolle behalten wollen.

Sie hatte oft Vorschläge und Angebote von anderen Menschen abgeschlagen, auch, wenn sie ihr gefallen hatten, nur, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Es war egal, ob es dabei um den von meinen Eltern geplanten Urlaub ging oder um ein Abendessen in einem Restaurant, das sie nicht ausgesucht hatte. Das hatte ich nie verstanden. Aber die meiste Zeit hatte es mich auch nicht gestört.

Sie war kein grauenhafter Mensch gewesen. Ich glaube, sie hatte sich selbst einfach wichtiger genommen, als sonst jemanden in ihrem Leben. Das war für mich okay, schließlich hatte sie mir beigebracht, genau dasselbe zu tun und seitdem war ich wesentlich weniger abhängig von anderen. Mittlerweile hörte ich im Zweifelsfall nur noch auf das, was ich wollte.

„Simon, du bist die einzige Person, die es mit dir bis zum Schluss aushalten muss", hatte sie einmal gesagt, als wir an einen See gefahren und bis zu den Knien im Wasser gestanden hatten, um flache Steine übers Wasser schießen zu können. „Die Meinung von anderen sollte dir egal sein. Und du solltest am Ende immer nur das tun, was du für richtig hältst. Du musst mit deinen Entscheidungen leben. Du musst es bis zum Totenbett mit dir aushalten und sonst niemand."

Sie war eine Menschenkennerin gewesen. Sie hatte zugehört und Menschen wirklich kennengelernt. Sie hatte genau gewusst, wie sie die Personen in ihrem Umfeld umdrehen konnte. Wie sie sie für ihre Zwecke benutzen konnte. Sie hatte immer ihren Willen bekommen, ohne dass es die meisten bemerkt hätten. Aber sie hatte dabei nie jemandem wehgetan oder geschadet.

Nur mir.

Als ich mich von meiner Mom verabschiedet hatte, trat ich aus dem Haus, ging zu meinem Auto und rief auf dem Weg dorthin zum ersten Mal Juliana an. Mich befiel eine seltsame, aufgeregte Nervosität dabei -warum auch immer. Ich hatte sie schon nackt gesehen, ein Anruf sollte ein Klacks sein. Aber irgendwie war er kein Klacks.

Mir fiel ein Stein vom Herzen, als sie an ihr Handy ging und ihre fröhliche Stimme mich begrüßte.

„Hey! Schön, dass du anrufst!"

„Schön, dass ich anrufe?" Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Was hätte ich sonst machen sollen, ein Telegramm schicken?"

Sie lachte. „Sei kein Idiot. Was gibt's?"

Sie klang so gelassen, als würde sie mit ihrer besten Freundin sprechen, die sie schon tausende Male angerufen hatte. Bestimmt lag sie in Schlabbersachen und den Haaren in einem unordentlichen Knoten auf der Couch, ließ die Beine über der Lehne baumeln und kraulte A.T.

Loaf zog unangenehm drängelnd an ihrer Leine und schien das Beifußgehen wieder verlernt zu haben. Vor meinem Auto ließ sie sich auf den Hintern plumpsen und wartete darauf, dass ich die Türe öffnete.

„Nichts, ich... wollte nur anrufen", meinte ich, weil ich mir wirklich nicht sicher war, warum ich sie angerufen hatte. Ich hatte einfach ihre Stimme hören wollen. Sicher stellen, dass der morgendliche Spaziergang gestern keine Einbildung gewesen war und sie meine Nummer nicht wegdrücken würde.

„Sind wir schon an einem so langweiligen Punkt angekommen?" Ich hörte das Lächeln in ihrer Stimme. „Rufst du mich jetzt nur noch grundlos an?"

„Gut, okay. Wie du willst. Wann hast du morgen Mittagspause?"

„Von eins bis zwei."

„Soll ich dich abholen? Wir könnten was essen gehen."

Sie antwortete nicht. Stille breitete sich aus und während ich mich zuerst fragte, ob sie mich überhaupt verstanden hatte, fragte ich mich nur eine Sekunde später, ob ich zu aufdringlich war. Ging es ihr zu schnell? Schließlich schien sie immer noch mit dem Tod von Michael zu hadern.

Sie wird dich abweisen. Du bist ein Vollidiot.

Ich war schon kurz davor, mein Handy auf die Straße zu werfen, und beim nächsten zufälligen Stiegenhaustreffen mit Juliana zu behaupten, dass ich es mit Loafs Stöckchen verwechselt hätte und ein Auto drüber gerollt war.

Soweit kam es zum Glück nicht, denn sie antwortete: „Das würde ich wirklich gerne."

Der Stalker meiner VormieterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt